Bedürfnisorientiert und biologisch 

 12/06/2019

Wie eine Leserin beide Ansätze verbindet.

Vergangene Nacht hat meine Blog-Leserin Veronika einen Kommentar geschrieben zum vorherigen Beitrag „Wutausbrüche beim Kleinkind – die Antwort“.
Veronikas Text ist für mich der Brückenschlag zwischen „bedürfnisorientiert“ und „biologisch“. Und damit niemandem dieser Erfahrungsbericht entgeht, setze ich ihn als Beitrag auf den Blog.
Veronikas Kommentar:
„Danke Uta, Rita und allen Kommentatoren für die Gedankenanschubser!
Ich möchte gerne mein Erfahrung sowohl mit bedürfnisorientiertem Ansatz als auch mit dem von Rita Messmer teilen.
Wir haben zwei Kinder (fünfeinhalb und eineinhalb) und unser erstes Kind sehr bedürfnisorientiert aufwachsen lassen. Vor einem halben Jahr habe ich die Bücher von Rita Messmer entdeckt und darin eine Erklärung und Lösung für viele der Probleme, die sich in unserem Familienleben eingeschlichen haben.
Ich hatte vor der Geburt meines ersten Kindes überhaupt keinen Kontakt zu Kindern, abgesehen von unrealistischen Darstellungen in Film und Fernsehen. Ich habe daher extrem viel gelesen, weil mir die Intuition (= internalisierte Erfahrung) fehlte. Die Bedürfnisorientierung und Auseinandersetzung mit Emotionen war für mich ein großes Aha-Erlebnis und ein Schlüssel zum positiven Umgang miteinander. Durch die Kinder und die Beschäftigung mit diesem Ansatz habe ich auch mich selbst und meine Gefühle erst wahrnehmen gelernt.
Andererseits war die Zeit mit unserem ersten Kind oft sehr anstrengend. Arbeiten neben dem Kind, Museumsbesuch oder auch nur Kaffeehausbesuch extrem schwierig. Bei Liedloff habe ich vor kurzem den Satz gelesen: „Die Logik der Natur verbietet den Glauben an die Evolution einer Spezies, für die es charakteristisch ist, ihre Eltern millionenfach zur Raserei zu treiben.“ Das hat mich schon stark schmunzeln lassen. Denn einfach ist unser Sohn wirklich nicht.
Als ich dann durch Uta vor einem halben Jahr auf die Bücher von Rita Messmer gestoßen bin, hat sich für mich so vieles geklärt. Bei beiden Kindern setze ich seitdem auf eine Kombination beider Ansätze und erlebe jetzt meine Kinder viel ausgeglichener und das Familienleben viel weniger aufreibend.
Ich denke, dass der bedürfnisorientierte Ansatz sehr gut funkioniert, wenn man mit seinen eigenen Bedürfnissen in gutem Kontakt ist und auch ein gutes Gespür für ALLE Bedürfnisse der Kinder hat, auch für nicht so unmittelbare wie das Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit, Selbstregulation.
Bei mir war beides nicht gegeben. Ich bin aufgewachsen mit einer sehr liebevollen, sich aufopfernden Mutter. Dieses Ideal der sich aufopfernden Mutter erlebe ich in unserer Gesellschaft immer noch als sehr präsent („Ich tue alles für meine Kinder.“ Meine Kinder kommen immer an erster Stelle“, …) Man kann in Wahrheit aber nicht gleichzeitig bedürfnisorientiert erziehen und die Opferrolle einnehmen.
Ich hatte immer sehr viel Geduld und Mitgefühl mit meinem Sohn und habe meine eigenen Bedürfnisse immer so lange wie möglich hinten angestellt. Mir war das als Problem auch zum Teil bewusst, ich fand es aber schwer, daran etwas zu ändern, ist das doch ein über Jahre antrainiertes Muster. Durch Rita Messmers Buch habe ich ein paar einfache Grundgedanken für mich übernommen („Das Kind folgt dem Erwachsenen, nicht umgekehrt“, „Mehr Taten weniger Worte“) die mir sehr weiterhelfen. Kombiniert mit dem Montessori-Gedanken „Hilf mir, es selbst zu tun“, trete ich jetzt für meine Bedürfnisse viel bewusster ein, übernehme ohne schlechtes Gewissen die Führung und versuche, weniger an meinen Kindern zu ändern, als ihnen Routinen, eine vorbereitete Umgebung zu schaffen, in denen sich ein entspanntes Familienleben als Konsequenz von selbst ergibt.
Es ist ‚work in progress‘, und ich probiere immer wieder aus, falle in alte Muster und versuche es erneut. Aber der Trend ist positiv ?. Beide Ansätze haben mein Leben sehr bereichert, der bedürfnisorientierte Ansatz hat es tief verbunden gemacht, der von Rita Messmer hat Leichtigkeit und Einfachheit hineingebracht.“
LG Veronika
Ich hatte mir schon den Kopf zerbrochen, wie ich noch etwas Hilfreiches schreiben könnte, habe gestern in Büchern über Bindungsforschung und das Erlangen psychischer Stabilität gesucht, und dann kommt über Nacht dieser Kommentar: Feldforschung aus dem Leben mit zwei Kindern im Alter der wichtigen Prägung.
Danke, Veronika, dass du deine Praxis und die Gedanken dazu mit uns allen teilst! Und Dank auch an all die anderen Kommentatoren. Der Blog als Quelle von Schwarm-Intelligenz!
Immer fröhlich auf die Klugheit anderer Menschen vertrauen und nie zu sehr an nur einem Ansatz kleben;-),
eure Uta

PS: Das Titelbild ist von Ketut Subiyanto von Pexels. Vielen Dank!

  • Danke, an Uta, Frau Messmer und Veronika! Ich habe die Diskussionen seit dem vorletzten Post sehr aufmerksam verfolgt, mich in all den (widersprüchlichen) Gedanken, Gefühlen und Berichten immer wieder gefunden und würde unsere familiäre Entwicklung genau so wie Veronika es getan hat, beschreiben. Dein heutiger letzter „fröhlicher Satz“, Uta, bringt es dabei auf den Punkt!
    Man vergißt leicht, dass die Umsetzung jedes Erziehungsstils auch stark durch die eigene Person und Persönlichkeit gefärbt wird. Eine starke, in sich ruhende Persönlichkeit mit Führungskraft wird bei Anwendung und Umsetzung eines bedürfnisorientierten Erziehungsstils nicht auf die gleichen Herausforderungen stoßen, wie eine Person, die erst in die elterliche Führungsrolle hineinwachsen muß.
    Für mich stellen daher Ritas Hinweise und Impulse einen ganz wichtigen Meilenstein in meiner persönlichen Weiterentwicklung als Mutter dar, genau so wie Veronika es beschrieben hat. Bedürfnisorientierung bedeutet für mich vor allem auch der bewusste Umgang mit unseren Gefühlen und einen entsprechenden wertschätzenden Kommunikationsstil. Was meine Rolle als Mutter angeht hat er mich jedoch auch auf Irrwege geleitet: Bedürfnisorientierung hat in der Babyzeit einen besonderen Stellenwert und rückblickend stellt sich der Übergang von der Babyzeit in die Kleinkindzeit in Hinblick auf den richtigen Grad an Bedürfnisorientierung als größte „Stolperfalle“ dar. Daher bin ich so ein Fan von deinem Blog und den vielen Impulsen hier. Nichts kommt dogmatisch daher und immer steht das ‚Verstehen wollen‘ und Ausloten aller Nuancen und Facetten für ein gelungenes Familienenleben im Vordergrund.
    Danke!

    • Liebe Elisabeth, zwei deiner Sätze treffen für mich besonders wichtige Punkte.
      Der eine ist: „Man vergißt leicht, dass die Umsetzung jedes Erziehungsstils auch stark durch die eigene Person und Persönlichkeit gefärbt wird.“
      Das ist ein ganz wichtiges Thema, finde ich. Bei Jesper Juul habe ich mal gefunden, dass etwa 80 Prozent des Erziehungsstils von der eigenen Persönlichkeit abhingen, die restlichen 20 Prozent beeinflussbar seien von äußeren Faktoren, Bücher, die man liest, Erziehungsmethoden, von denen man hört … Aber 80 Prozent (!!!) gehen wohl darauf zurück, wie fest man in seinen eigenen Schuhen steht und was für Schuhe das sind 😉 Und auch was Milli schrieb vom inneren Kind, spielt eine große Rolle: Stehe ich als Mama vielleicht noch in meinen eigenen Kinderschuhen und habe sie noch nicht an den Haken gehängt?
      Deshalb finde ich das Eltern-Sein auch so genial: Kinder bieten einem die Möglichkeit, sich mit ihnen unglaublich weiter zu entwickeln. Jedes Kind ist wie eine personifizierte Frage an mich als Mama: Wer bist du eigentlich? Wofür stehst du? Und wie sehr lässt du mich ich selber sein?
      Der zweite Satz, der mich in Elisabeths Kommentar so angesprochen hat, ist dieser:
      „Bedürfnisorientierung hat in der Babyzeit einen besonderen Stellenwert und rückblickend stellt sich der Übergang von der Babyzeit in die Kleinkindzeit in Hinblick auf den richtigen Grad an Bedürfnisorientierung als größte „Stolperfalle“ dar.“
      Das ist wirklich eine Herausforderung. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur unterschreiben und sehe es auch bei einigen Coachies.
      Danke, Elisabeth, für diesen so bereichernden Beitrag!
      Viele Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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