Genesung im Zeitraffer 

 21/05/2017

Wie Sadia nur knapp eine Woche in der Klinik verbrachte.

Heute vor einer Woche haben wir einen Dolmetscher mit Sadia telefonieren lassen. Er sollte ihr sagen, dass ihr Herz am anderen Tag operiert werden würde. Wir fanden es sinnvoll, es sie erst am Abend vorher wissen zu lassen, damit sie das Wochenende noch unbeschwert genießen konnte. Als dann der Anruf kam, saßen wir bang mit um den Küchentisch. Jeder fürchtete sich vor ihrer Angst und vor der eigenen Hilflosigkeit. Aber nichts dergleichen. Sie nahm die Nachricht gelassen auf. Das spricht für die Einfühlsamkeit des Dolmetschers. Und für Sadias Klugheit. Schließlich musste ihr ja klar sein, dass sie wegen des Eingriffs nach Deutschland gebracht worden war. Zumindest ist das anzunehmen. Niemand von den Gasteltern weiß genau, was dem jeweiligen Kind vorher erzählt wurde. Ein Mädchen aus der Gruppe geriet am Vortag der Operation in Panik, weil der Vater ihr am Telefon gesagt hatte, dass die ganze Familie für sie beten würde und er sich vorsichtshalber von ihr verabschieden wolle, weil man ja nicht wissen könne, ob sie wieder aufwachen würde. (Auch dieses Mädchen wurde erfolgreich operiert. Wie inzwischen alle neun Kinder der Gruppe.)
Nach dem Anruf habe ich Sadia gebadet. Vergnügt kippte sie sich Wasser über den Kopf, spielte mit dem Schaum und rutschte von der Wannenschräge Richtung Ausfluss. Und ich nahm mir vor, immer an dieses kleine Mädchen vor der Herz-Op zu denken, wenn mir mal wieder vor einem Arzttermin bange war. Um 5:30 Uhr am anderen Morgen habe ich sie im Schlafanzug ins Auto getragen und der Kronprinz hat uns in die Klinik gefahren. Sie bekam einen einschläfernden Saft zur Beruhigung. So war sie schon etwas taumelig, als ich sie auszog und in das OP-Hemd schlüpfen ließ. Eine Stunde mussten wir noch in einem Klinikzimmer warten, bevor es losging. Kronprinz und ich zogen alle Register, um sie auf gute Gedanken zu bringen. Seifenblasen und eine Stoffmaus, die sich im Krankenhaus nicht benehmen kann, vertrieben uns die Zeit. Sadia hat es uns aber leicht gemacht. Sie war unfassbar tapfer. Erst in der Schleuse vor dem OP-Saal mit all den Männern und Frauen in grünen Kitteln und Hauben auf dem Kopf liefen die Tränen. Da war es tröstlich, dass der ältere Anästhesist, der eigentlich im Ruhestand ist, aber zur Unterstützung der afghanischen Kinder in die Klinik kommt, ihr den Arm streichelte und mit ruhiger Stimme auf sie einredete.
Nach dreieinhalb Stunden kam der erlösende Anruf. Die Operation war gut verlaufen. Beide Herzfehler konnten behoben werden. Ein afghanischer Arzt, der Paschtu spricht, informierte ihre Eltern. Ich sollte so gegen 15 Uhr in die Klinik fahren. Um diese Zeit etwa würde Sadia wieder aufwachen.
Ich hatte noch überlegt, ein mit Gas gefülltes Luftballon-Herz zu besorgen und es an das Bett zu binden, aber in ihrem Dämmerzustand, das Gesicht geschwollen von eingelagertem Wasser und umgeben von piepsenden Maschinen, hätte sie das wohl kaum wahr genommen. Es reichte, dass ich da war. Und mir reichte es zu wissen, dass es jetzt nur noch bergauf gehen konnte. Plötzlich war ich dankbar für die Apparate-Medizin. Sobald Sadia Schmerzen hatte, konnte schnell wirksam über die Schläuche die Dosis an Schmerzmittel erhöht werden. Ein Pfleger war ständig da, befeuchtete ihr die Lippen, wechselte die Infusionen, kühlte ihr die Stirn, tat alles, um ihr Leiden so gering wie möglich zu halten. Sie schlief viel, die schweissnassen Haare auf einem Kissen voller Clowns.
Am anderen Morgen war sie schon deutlich wacher. Und ich lernte, dass die beginnende Genesung eines Patienten auf der Intensivstation abzulesen ist an der abnehmenden Zahl der Kabel und Schläuche, die von seinem Körper an die Geräte ans Kopfende führen. Von Stunde zu Stunde konnte hier ein Zugang entfernt, dort ein Schlauch gezogen werden. Sie begann, sich wieder für Pixi-Bücher zu interessieren, die ich in Höhe der zugepflasterten Brust für sie aufblätterte. Nur essen konnte sie noch nichts. Ein Stückchen Banane erbrach sie gleich wieder.
Als ich am zweiten Morgen nach der Operation auf die Intensivstation kam, war ihr gerade der Schlauch gezogen worden, der das Wasser aus dem Brustkorb fließen ließ. Mit Hilfe des Pflegers durfte ich sie ein wenig waschen, was ihr und mir sehr wohl tat. Endlich etwas tun! Zudem sah ich mit Staunen, wie man eine Matratze neu bezieht, während jemand darin liegt. Am Mittag holte ein Klinik-Mitarbeiter das Bett mit dem kleinen Paschtunen-Mädchen von der Intensiv-Station, manövrierte es über die Gänge auf die Kardiologie-Station, während ich vorne weg sprang, immer darum bemüht, sie wissen zu lassen, dass ich bei ihr blieb und sie nicht entführt würde.
Jetzt teilte sie sich ein Zimmer mit Nizam, einem Jungen aus der Herzbrücke-Gruppe, der ein paar Tage vor ihr operiert worden war. Stündlich ging es ihr besser, konnte den geliebten Hüttenkäse wieder essen, lachte, weil der Ultraschallkopf sie in der Seite kitzelte, lernte blitzschnell ihr Bett und den Fernseher per Fernsteuerung zu bedienen. In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag übernachtete ich bei den beiden afghanischen Kindern mit den reparierten Herzen. Durch das offene Fenster kam die frische Luft der warmen Frühlingsnacht. Damit keine Mücken angezogen wurden, spielte ich mit Nizam im Schein der Handy-Lampe „Mensch-ärgere-dich-nicht“. Da gab Sadia uns zu verstehen, dass sie mit an den Tisch wollte. So saß sie schließlich – gestützt von ihrem Oberbett – vor dem Spielbrett und freute sich über jeden Rauswurf. Und ich war selig, mit zwei Kindern da zu sitzen, denen so langsam dämmerte, dass das Schlimmste überstanden war.
Am Mittag des nächsten Tages konnten wir zusammen zur letzten Ultraschall-Untersuchung ins Untergeschoss laufen, die letzten Zugänge und Drähte wurden gezogen und seit Donnerstagnachmittag sind Sadia und ich wieder zu Hause. Unfassbar. Eine Genesung im Zeitraffer. Sind Kinder nicht unglaublich?!

Beweisfoto – an der Hand meines Mannes heute auf dem Weg zur Ruderpartie auf der Außenlaster.

Immer fröhlich über Kinder und die Möglichkeiten der Medizin staunen!
Eure Uta

  • Oh, wie freut mich das?! Ich habe häufig nachgesehen wie es Euch so geht und bin froh, die guten Nachrichten zu lesen. Weiterhin alles, alles Gute!!! Wie lange ist die tapfere Lütte noch bei Euch? LG Vanessa

  • Liebe Uta,
    so bewundernswert, wie Du das – wie Ihr das – mit der Kleinen macht! Und so schön zu lesen, dass es Sadia wieder besser geht. Mir geht immer wieder durch den Kopf, was wohl so ein kleiner Mensch davon für sein weiteres Leben mitnimmt…
    Herzliche Grüße, Susanne

  • Liebe Uta, das sind wunderbare Neuigkeiten.
    Berührt lese ich mit, bin ich doch mit einem „Herz-Kind“ verheiratet…
    Ebenso spannend und bemerkenswert an Deinen Schilderungen finde ich aber die Tatsache, wie absolut „normal“ Ihr bereits zusammenzuleben scheint. Trotz Sprach- und Kulturunterschieden. Kinder sind einfach wahre Anpassungs- und Lebenskünstler. Und Ihr mit Sicherheit eine phantastische Gastfamilie.
    Herzliche (!) Grüsse
    Martina

  • Hallo Uta,
    wie sehr mich deine Schilderungen an die Herz-OP unseres Großen vor nunmehr 5,5 Jahren erinnern. Auch er hat (nach 6 Stunden OP und davon 2,5 Stunden Herz-Lungen-Maschine) nach 7 Tagen die Klinik verlassen können… auch er war vor der OP total gelassen. Aber noch heute empfindet er die Zeit auf Intensiv als die schlimmste seines Lebens.
    Liebe Grüße und alles Gute euch allen weiterhin!
    Steffi Fee

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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