Gut genug als Roller-Fahrer? 

 13/12/2016

Damit Kinder sich nicht unzulänglich fühlen

Hausaufgaben-Polizei? Das gibt es bei uns ja schon lange nicht mehr. Und als Prinzessin in Klasse 6 bis 9 war, sind wir gut damit gefahren. Die Noten haben sich nicht groß verändert und wir hatten das schönste Leben. Hier nachzulesen und hier.
Jetzt in Klasse 10 stehen in Hamburg die schriftlichen Überprüfungen an. Als heute der Morgen graute, wachte ich auf und ein paar unfreundliche Mahner standen drohend neben meinem Bett.
„Du siehst das zu locker!“ – „Das ist naiv!“ – „Strenge kann Halt und Orientierung geben!“ – „Sie braucht dich jetzt und nicht bloß als Kakao-mit-Sahne-Mama!“
Ist das so?
Ich rieb mir die Augen und hielt Ausschau nach meiner alten Freundin „Leichtigkeit“.
Musterhafte Leistungen in allen Fächern? Von mir aus nicht.
Sicheres Bestehen der 10. Klasse? Ja, das auf jeden Fall. Das ist ja auch ihr Ziel.
Deshalb haben wir Eltern mit ihr gesprochen und gesagt, dass wir ausgiebige Freizeitaktivitäten am Wochenende abhängig machen würden von einer Stunde Lernen in einem der Hauptfächer. Wir wüssten, haben wir ihr gesagt, dass sie mehr kann, als sie zeigt, und dass wir nicht zulassen würden, dass sie sich unter Wert verkauft.
Jetzt macht sie es. Vorgestern eine Stunde mit einem Online-Matheprogramm. Ich saß ein paar Meter davon entfernt auf dem Sofa und hatte Dopamin-Ausschüttungen bei jedem Klingeln, das das Lösen einer Aufgabe belohnt. Dabei habe ich bloß gestrickt und keine Exponential-Gleichungen gelöst.
Wir haben den Eindruck, sie braucht gerade ein bisschen Unterstützung und Führung von uns. Das probieren wir jetzt aus. Mehr wird es aber nicht geben. Denn ich will diese Angst nicht, die einem plötzlich in den Nacken springt und die auch Prinzessin sichtlich niederdrückt. Ich will zu dem Druck, den sie in der Schule schon hat, nicht noch mehr auf ihre Schultern packen.

Ich halte das Gefühl „Ich bin nicht gut genug“ für die Wurzel so ziemlich allen Übels. Es macht klein, schwach, behindert die Kreativität, macht das Denken eng, die Gefühle stumpf, dämpft alle Lebenslust.
Kleine Kinder haben keine Frage dazu, ob sie gut genug Laufrad fahren, ob sie gut genug Rutsche rutschen, ob sie gut genug sind als Puppenmutter, Sheriff, Sandburg-Architekt … Erst wir Großen säen diese Zweifel, drängen ihnen unsere Bewertungen auf, lassen uns verunsichern von Entwicklungsbögen aus der Kita, von Einschulungstests und von erteilten oder nicht erteilten Gymnasial-Empfehlungen. Von der Wiege bis zur Bahre – die große Frage: „Bin ich gut genug?“
Wir sind ja alle so aufgewachsen. Wir geben es weiter von Generation zu Generation. Um davon weg zu kommen, muss man ganz aussteigen aus diesem System.
Wie macht man das?

  • Es fängt damit an, dass man für sich selbst deklariert: Ich bin gut genug.
  • Das bedeutet nicht, dass man bis an das Ende seiner Tage auf dem Sofa bleibt und von Fertig-Pizza lebt, sondern mit dem guten Gefühl von „Ich bin gut genug“ voller Kraft, Mut und Freude neue Projekte angeht.
  • Erlebt man Rückschläge bei diesen Projekten, macht man nicht den Fehler, wieder zu folgern „Ich bin nicht gut genug“, sondern macht sich klar: „Ich bin die Quelle meiner Ergebnisse, aber ich bin nicht meine Ergebnisse.“ Wenn etwas schlecht läuft, nehme ich es als Rückmeldung, etwas zu ändern, aber nicht, um mich runterzuziehen.
  • Wenn ich etwas verändern will als Mama oder Papa – oder in welcher Rolle auch immer -, gucke ich nicht zurück, sondern nach vorn, ich schaue nicht auf Defizite und Mängel, sondern setze mir Ziele. (z.B. „Ich biete meinem Kind heute Abend meine Unterstützung an.“ – „Ich führe bis Ende Januar 2017 ein Gespräch mit dem Mathelehrer meines Kindes.“ – „Ich setzte eine Bedingung wie ‚1 Stunde lernen für Ausgehen am Wochenende‘.)
  • Und ich muss mir klar machen: Ich kann niemand anderem, auch meinem Kind nicht, Gefühle „machen“. Ich kann es unterstützen und meine Liebe zum Ausdruck bringen. Aber welche Schlussfolgerungen es jetzt und später daraus zieht, darauf habe ich keinen Einfluss. So kenne ich Erwachsene, die ihren Eltern vorwerfen, sie dazu gezwungen zu haben, ein Musikinstrument zu erlernen. Und es gibt Erwachsene, die ihren Eltern vorwerfen, dass sie nicht gezwungen wurden, ein Instrument zu lernen. Richtig oder falsch? Die Kategorien sind fehl am Platz.
  • Ich kann meinem Kind das „Nicht-gut-genug“-Gefühl – sollte es sich bei ihm eingeschlichen haben – nicht nehmen. Aber ich kann für mich untersuchen, was ich mir für mein Kind wünsche und meine Unterstützung danach ausrichten. Geht es darum, dass wir Eltern vor anderen gut da stehen? Oder habe ich Absichten für mein Kind und biete ihm Möglichkeiten für ein erfülltes Leben?
  • Zudem kann ich Angebote machen: Angebote an Zeit, Gespräch, Unterstützung … eben alles, was einzahlt in eine gute Beziehung.
  • … und es kann mir passieren, dass es diese Angebote ablehnt
  • Trotzdem kann ich am Ball bleiben, neue Angebote machen, immer wieder signalisieren: „Ich interessiere mich für dich.“ – „Mir ist es nicht egal, wie es dir geht.“ – „Soll ich dir mal wieder den Rücken kratzen?“
  • Ich begrüße Fehler und Fragen als Möglichkeit zum Lernen. Sollte sich eine Lehrerin vor der Klasse lustig machen über das vermeintliche Unwissen meines Kindes (wie es unlängst Klassenkameraden von Prinzessin erleben mussten), stelle ich sie zur Rede und fordere sie auf, sich vor der Klasse bei meinem Kind zu entschuldigen.
  • Ich vertraue meinem Kind. Nicht im Sinne von: „Jetzt kommen nur noch Einser und Zweier“, sondern ich vertraue, dass es seinen Weg geht und die Erfahrungen macht, die es braucht, um der Mensch zu werden, der es sein möchte.
  • Ich kann die Vorträge, das Predigen und Schimpfen lassen und erst einmal fragen: „Was möchtest du gerne mal werden?“ – „Hast du schon Ideen?“ – „Was macht dir am meisten Freude?“ – „Wozu möchtest du den Schulabschluss nutzen?“ – „Hast du dich erkundigt, welche Noten man dafür braucht?“ – „Welche Note möchtest du in der nächsten Arbeit erreichen?“ (Wenn ich als Eltern auf Schwächen und Mängel hinweise, vergrößere ich nur den Frust, den der Teenager sowieso schon hat. Sehr wahrscheinlich wird er das Gespräch dann abbrechen. Sich aber über Ziele klar zu werden oder sich welche zu setzen, ist motivierend und inspirierend.)
  • Ich kann mich darin üben, mehr in meinem Kind zu sehen, als es selbst in sich sieht. Manche Eltern sehen nur Defizite, manche glauben, sie hätten ein „realistisches“ Bild von ihrem Kind. Wie wäre es damit, mehr in seinem Kind zu sehen, als es selbst sieht? Hattet ihr schon mal jemanden an eurer Seite, der eine größere Vision von euch hat, als ihr selbst? Ist das nicht unglaublich beflügelnd? Wenn ich mir vorstelle, Lehrer würden das lernen in ihrer Ausbildung. Was könnte das bewirken?! Halleluja!

Sich immer fröhlich sagen „Ich bin gut genug“ und seine Kinder damit anstecken!
Eure Uta

Foto von Pavel Danilyuk von Pexels. Vielen Dank!

  • Dein Beitrag kam genau zur richtigen Zeit. Da saß ich gestern mit dem Kopf voller „Was kann ich tun, damit es meine Große in der Schule besser schafft?“ und bevor ich mit meinem Aktionswahn alle überrennen konnte, kam dein Blogeintrag. Und dann fiel es mir auf – wie ich zwar einerseits die Gesellschaft anklage, dass unsere Kinder immer mehr können sollen und nie gut genug sind und mich dann andererseits selbst dabei ertappe, wie ich versuche, das Leben meiner Töchter zu optimieren, noch mehr verbessern zu wollen, einzugreifen in das, was noch nicht gut genug ist. Danke! Ich konnte anhalten, es gut sein lassen, mit meiner Tochter ein schönes entspanntes Gespräch führen und ihr wieder mehr die Entscheidungen zu überlassen, wie sie ihr Leben gestalten will. Da war ich auch schon mal entspannter … und jetzt werde ich es wieder sein. Herzliche Grüße aus Bayern

  • Vielen Dank. Wir sind noch ganz am Anfang (3 Monate in der ersten Klasse), aber schon jetzt gibt es da viel Druck. Wir wollen da jetzt erstmal aussteigen und stellen unserem Kind frei, ob es Hausaufgaben machen möchte. Wir unterstützen sie gerne, aber wir bauen keinen Druck nach dem Motto „Wenn Du keine Hausaufgaben machst, dann …“ auf. Zur Not soll sie halt die Klasse wiederholen.
    Fühle mich nach Deinem Text bestärkt. Danke.

  • Ich habe gerade dazu einen Vortrag von Prof. Dr. Joachim Bauer gehört. Kennen Sie ihn? Ein begnadeter Redner (finde ich). Sein „Zauberwort“ ist RESONANZ. Und dem Kind immer wieder zeigen „du bist bedeutsam, ich interessiere mich für dich.“
    Und dann nannte er zwei Sprichwörter: „Die Sau wird nicht vom Wiegen fett.“ und „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man dran zieht.“ Also sollten wir unsere Kinder nicht immer und immer wieder messen. Davon werden sie nicht besser.
    Liebe Grüße
    asty

  • Hallo Uta,
    das ist echt spannend zu lesen!
    Ich habe grade letzte Woche wieder ein paar Kapitel in deinem Buch nachgelesen um mich selbst daran zu erinnern, dass ich manche Dinge lockerer sehen sollte… 😀
    Gleichzeitig hat mir eine Freundin erzählt, dass ihre Tochter nach Jahren des lockeren Umgangs mit den schulischen Anforderungen (der immer perfekt geklappt hat) jetzt auf einmal deutliche Grenzen sucht.
    Ich finde es klasse, dass unsere Kinder (und wir!) uns immer weiter entwickeln – und schön von dir, dass du auch über solche Veränderungen schreibst. Danke!
    Regine

  • Hallo Uta,
    dein Post kommt zur rechten Zeit. Meine Tochter ist erst dieses Jahr eingeschult worden und schon gibt es Probleme. Sie kommt in Deutsch nicht mehr mit… Die Buchstaben, die Silben, Lesen, alles fällt schwer und vor allem wehrt sie sich mit Händen und Füssen (also richtig körperlich), mit Geschrei und Geheule gegen Hausaufgaben und Üben. Wir sollen 10 Minuten üben, aber bis wir anfangen vergeht eine Stunde mit Abwehren, Sich-auf-den-Boden-Werfen, Anschreien, Streiten, Ablenkung, Zappeln…
    Meine Geduld ist auch am Ende und ich bin traurig, dass der Start mit dem Schulleben so schlecht war und ist…
    Liebe Grüße
    Mama von Suzan

  • Hallo Uta,
    Danke für Deine aufbauenden Worte, ich glaube nicht an Zufall, es sollte so sein, dass ich genau heute dieses lese! Ich bin etwa im dritten Schuljahr meines Sohnes „ausgestiegen“ aus dem Schulwettk(r)ampf und es hat uns allen gut getan. Die Prüfung in der zehnten Klasse nächstes Jahr hat mich aber etwas verunsichert in dieser Haltung, auch ist „nicht gut genug“ genau mein Lebensmotto.
    Liebe Grüße
    Ingrid

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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