Ich stand bei H&M in der Kinderabteilung in der Schlange an der Kasse. Vor mir eine Mutter mit einem Mädchen, das vielleicht knapp ein Jahr alt war. Es konnte gerade laufen, wankte von dem Bein der Mutter einen halben Meter zum Buggy und wieder zurück. Vier- oder fünfmal. Dann wurde die Kleine müde und fing an zu weinen. „Du alte Meckerziege“, sagte die Mutter und nahm sie unsanft an die Hand.
„Du alte Meckerziege?“ Hatte ich richtig gehört? Meinte sie diesen kleinen Menschen mit den blauen Smarties-Augen und den Nacken voller Locken. Alte Meckerziege?

Okay, mein Mann nennt Kronprinz (14) auch gerne „Spacken“. Kronprinz hat zwar auch Smarties-Augen, ist nicht mehr so erschöpft vom Laufen und kann seit mindestens sechs Jahren Ironie verstehen.

Aber dieses kleine Mädchen? Vor wenigen Tagen hatte es sich das erste Mal aufgerichtet, hatte die ersten Schritte gemacht. In dem Alter ist das die Kategorie „Mondlandung“.
Man richtet sich auf, sackt wieder hin, rappelt sich wieder auf, hat diesen völlig neuen Ausblick. Und dann plumpst sie wieder weg die neue Welt.
Alles beginnt von vorn. Das ist aufregend und anstrengend. Da wird man doch mal müde sein dürfen.

Das Mädchen hörte nicht auf, vor sich hin zu meckern. Es war kein Schreien, kein Weinen. Eher so ein beleidigtes Blubbern wie von unserem Wasserkocher. Die Mutter schob den Buggy mit dem Stapel Kleider ein paar Zentimeter weiter. Die Kleine verlor das Gleichgewicht, der Körper umkreiselte Mutters Bein und landete auf dem Po. Mutter zog sie am Ärmchen wieder hoch. „Du alte Meckerziege!“

Ich wollte schon anbieten, das ich mal an dem anderen Ärmchen zerren könnte. Nur so zum Ausgleich.

Da nahm Mutter die Kleider vom Buggy und stopfte das Kind unter den Bügel des Buggys. Jetzt weinte es richtig. Die Schlange kam auch nicht richtig voran. Also Schnuller in den Mund gestopft. Die Kleine spuckte den Schnuller aus, drückte sich mit durchgebogenem Rücken aus dem Sitz. „Setzt du dich wohl hin, du alte Meckerziege.“ Mutter stopfte sie zurück, stopfte den Schnuller wieder rein, hielt diesmal die Hand davor, damit er nicht gleich wieder rausflog.

Es wurde gestopft, gedrückt, geschoben, gar nicht richtig hingeguckt, die Kleider auf den Arm genommen statt das Kind. Kein Gefühl für das Mädchen, das eine Dosis Nähe brauchte nach all den Aufregungen in dieser glitzernden Kaufhauswelt, nach all dem Ausbalancieren auf den Marshmellow-Beinen.

Ich hätte die Frau am liebsten mit einer Leggins an den Kleiderständer gefesselt und die „kleine Meckerziege“ gekidnappt.

Ich weiß, das ist unfair. Ich habe Kinder, die so groß sind, dass ich sie allein zu Hause lassen kann. Ich kann in Ruhe shoppen gehen und die Szenerie beobachten und mich bei einer Tasse Earl Grey in meinem Blog über eine Frau erheben, die vielleicht seit Tagen kaum geschlafen hat, weil die Kleine zahnt, Durchfall hat, Papa nicht hört, wenn sie nachts weint, Schwiegermutter findet, dass sie sowieso alles falsch macht …
Vielleicht regt es mich auch auf, weil ich allzu oft genauso reagiert habe, als die Kinder klein waren, weil ich überfordert war und auch noch nicht wusste, was in solch einer Situation hilft.

Was hilft, ist:

  • genau hinschauen, sich in das Kind hineinversetzen
  • es beim Namen nennen (vielleicht gibt es noch Alternativen zu „alte Meckerziege“)
  • das Kind auf den Arm nehmen, Körperkontakt
  • vielleicht so Dinge sagen wie: „Ich sehe, du bist müde von der ganzen Lauferei, oder?“

Der im vergangenen Jahr verstorbene Pädagoge Wolfgang Bergmann beschreibt in seinem Hörbuch „Wie Kinder Gefühle lernen“ eine ähnliche Situation und formuliert, wie ein noch sehr auf Mutter oder Vater bezogenes Kleinkind sich fühlt in so einer Kaufhaussituation.

„Ich bin ganz allein, Mama schaut mich nicht an, ich weiß nicht mehr, wer ich bin, ich erfasse die Welt nicht mehr.“

Und Jesper Juul schreibt in seinem Klassiker „Dein kompetentes Kind“ (S. 158/159), dass von Kindern häufig verlangt würde, die Realität der Eltern ernst zu nehmen, ohne dass ihre eigene Realität ernst genommen wird.

Immer schön junge Eltern unterstützen und ihnen Mut machen, dass sie genug Muße haben, mal genau hinzuschauen.

Und hier könnte man sich was zusammenstellen, wenn einem kein Kosename einfällt:

 

 

Diese schönen Magnetkärtchen habe ich mal von meiner Schwester Nummer 2 geschenkt bekommen. Man scheint sie nur noch hier gebraucht und recht teuer zu bekommen.

Prinzessin (11) braucht keine Kärtchen. Sie hat sich für ihren Bruder im Urlaub folgenden Kosenamen ausgedacht:

mein kleines bautziges Bububärli-Baby
 
Bis man den Namen drauf hat, muss man an keiner Kasse mehr warten.
 

Immer schön fröhlich bleiben, Ihr bautzigen bubo-kuscheligen Zimtbärli …

Uta

  • Hallo Uta,

    das ist jetzt der 2. Post den ich von Dir lese und bin absolut gefesselt von dem was Du schreibst. Ich habe auch nicht immer richtig reagiert, als mein Sohnemann klein war und wie gut hätten mir ein Ermunterungen gut getan.

    LG
    Annie

  • Da sprichst du wieder ein Thema an, bei dem wir uns sicher alle ein bisschen selbst ertappen. Und ich finde es sehr schön, dass du der betreffenden Mutter auch diese „Entgleisung“ zugestehst, da keiner die Vorgeschichte kennt. Ich habe sicher auch manches Mal für Außenstehende nicht liebevoll genug auf meiner Tochter reagiert (z.B. als ich sie brüllend durchs Einkaufszentrum gezerrt habe, weil es keine Glitzerschuhe im Schuhladen gab – Trotzphase) und ich würde ich Nachhinein auch sicher manches anders machen aber letztendlich ist es gut, immer wieder an die wesentlichen Dinge erinnert zu werden und genau das finde ich bei deinen Posts so toll!
    Vielen Dank und auf viele weitere Erinnerungen und Anregungen,
    Dani

  • Tjaja, das mit den Kosenamen für Teenager ist schwierig.
    Man will den „Spacken“ ja auch nicht zum Hasibärli degradieren, auch wenn man ihn nur in den eigenen 4 Wänden so nennt.
    Habe lange überlegt, wie ich meinen Sohn (14) kosenennen kann und wir haben uns einvernehmlich auf ENGELBERT geeinigt (Engelchen oder Engelmännchen, wie zu Kleinkindzeiten, ist ja ultramegauncool).
    Die Idee mit den Kärtchen finde ich übrigens sehr süß!

  • Mir geht’s genauso,als meine Großen klein waren,war ich echt manchmal am Rande meiner Möglichkeiten,jetzt habe ich noch mal eine kleine Maus und bin viel entspannter.Auch die Großen (12 u.10 ) haben was davon.
    Supermutti fliegt halt nicht immer.
    Schön,wie Du darüber schreibst und so tröstlich,nicht allein zu sein.
    Danke! Silke…

  • Hallo Uta!
    Viele Eltern müssten die Gelegenheit haben, Deine Blogs zu lesen!
    Bestimmt würden ihnen weniger „Meckerziegen“ rausrutschen!
    Auch viele andere Tips sind nicht nur humorvoll geschrieben,
    sie sind auch nachahmenswert, meint Deine
    M.

  • Hallo Uta,
    ich habe gerade über Papagena und ihren Blog deine Seite entdeckt und freue mich sehr, hier gelandet zu sein.
    Ich glaube, fast alle Eltern kennen Situationen in denen sie nicht so reagiert haben, wie es liebevoll und richtig gewesen wäre. Irgendwo habe ich mal diesen schönen Satz gelesen: „Ein Kind gibt einem jeden Tag die Möglichkeit, ein besserer Mensch zu werden.“ Man kann immer an sich arbeiten und dein Post ist eine schöne Ermunterung dafür.
    Liebe Grüße, Bine.

  • Hallo Uta,

    ich habe zwar kein Blog-Abo, aber ich liiiiiiebe deinen Blog! Ganz genauso wie du empfinde ich auch.
    Bei der Geschichte von eben hätte ich der Mutter die Kleider abgenommen mit den Worten: “ Geben Sie mal her, ich halte Ihnen die Kleider, dann können Sie dieses kleine wunderbare Engelchen auf den Arm nehmen. Gott, sind Sie eine Glücksmutter. Ich bin ganz neidig!“ Wahrscheinlich hätte sie abgewehrt mit:“ Aber nein, sie ist doch so anstrengend, usw..“ Trotzdem wäre sie ungemein stolz auf ihr „Meckerziegenengelchen“ gewesen und hätte ihr Kind mit anderen Augen angesehen.

    Liebe Grüße aus Taiwan – Tina

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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