In Deutschland sind die Lehrer gegen uns 

 31/12/2017

Warum Prinzessin die Schule in Kanada so mag.

Die Großeltern sind gestern Abend wieder abgereist. Es ist Silvestermorgen. Die anderen schlafen noch. Und ich genieße die Zeit, endlich wieder etwas aufzuschreiben.
Prinzessin (16), aus der die Erlebnisse nicht so heraussprudeln wie vielleicht aus anderen Geschlechtsgenossinnen, hat nach und nach mehr aus Kanada berichtet. In den ersten Tagen in Hamburg hat sie etwa fünfmal am Tag gesagt, wie froh sie sei, wieder zu Hause zu sein. Und wir bekamen schon Sorge, wie sie und wir wohl den Tag der neuerlichen Abreise am kommenden Mittwoch erleben werden. So langsam wird das Bild ihrer Erlebnisse an Kanadas Westküste aber differenzierter. Ja, ihr fehlen ihre Freundinnen, das deutsche Brot, das Kuscheln mit den Katzen, Rückenkraulen von den Eltern, Großstadtleben, Fahrradfahren …, aber die Schule in Kanada sei viel, viel besser. Und ihr grause schon vor den zwei Jahren, die sie in Deutschland bis zum Abitur zu bewältigen habe.
So schlimm?
Wir sind ein wenig erschüttert. Das Gymnasium, das unsere Kinder besuchen oder besuchten, halten wir für ganz passabel. Auch dort finden sich engagierte Lehrer, spannende Kurse und – wie sich jetzt zeigt – ein deutlich höheres Niveau in den naturwissenschaftlichen Fächern als in den angelsächsischen Ländern. Prinzessin sagt, dass der anspruchsvollste Mathe-Kurs in Stufe 11 in Kanada den Stoff behandele, den sie hierzulande Anfang der zehnten Klasse abgeschlossen hätten.
Und dennoch. Schule würde dort Freude machen und hier überhaupt nicht. Woran kann das liegen?
Prinzessin nennt folgende Punkte:

  • Kaum eine Schulstunde würde vergehen, in der die Lehrer nicht Witze erzählen würden und sie miteinander Spaß hätten. Überhaupt seien die Lehrer an ihrer Schule in Kanada deutlich motivierter und engagierter. Das erstaunt uns Eltern allerdings wenig, finden die Lehrer dort, an einer durch Spenden üppig ausgestatteten Privatschule, ganz andere Ausstattungen und Bedingungen vor als an einem staatlichen Gymnasium in Deutschland. Auf der anderen Seite steht die Arbeit der Pädagogen dort völlig anders auf dem Prüfstand als hierzulande: die Lehrer an dem Internat erhalten lediglich einen Ein-Jahres-Vertrag (!), dessen Verlängerung zu einem Teil auch davon abhängt, wie ihre Schüler abschneiden und wie die Schüler sie bewerten.
  • Bei einem Treffen mit Freunden sprechen wir in großer Runde über den Schulvergleich. Der Sohn unserer Freunde, der ein Jahr auf einem Internat in Irland gelernt und bei Prinzessin den Wunsch ausgelöst hatte, ins Ausland zu gehen, brachte es auf folgende Formel: „In Irland waren die Lehrer für uns, in Deutschland sind die Lehrer gegen uns.“ (Heftiges Nicken bei Prinzessin)

Kann man das so sagen? Woher kommt dieser Eindruck? Und wollen wir Lehrer, die sich bei den Jugendlichen einschmeicheln und ihnen alles durchgehen lassen? Aber das scheint nicht der Punkt zu sein. Denn auf Disziplin zum Beispiel wird größten Wert gelegt auf dem Kanadischen Internat. So musste Prinzessin mit einer Mitschülerin zusammen nach einem Ausflug die Schuhe aller Kursteilnehmer putzen, weil sie ein paar Minuten zu spät in den Unterricht gekommen waren. Eine Maßnahme, die hierzulande undenkbar wäre und deutsche Eltern (samt ihrer Anwälte) auf den Plan rufen würde. Und trotzdem gehen die Jugendlichen (zumindest aus unserem Umfeld) lieber auf solch eine Schule als auf ihr deutsches Pendant. Deshalb weiter zu den Punkten.

  • Die Lehrer in Kanada – so Prinzessin – würden Weiterentwicklung nicht nur von den Schülern einfordern, sondern auch selbst vorleben. So würde einer ihrer Lehrer in jedem Schuljahr ein persönliches Ziel nennen, auf das er hin trainiere. In diesem Jahr hatte er sich vorgenommen, einen Spagat zu schaffen. Und tatsächlich trat dieser Lehrer vor den Weihnachtsferien in der Aula auf die Bühne und zeigte eine passable Grätsche.
  • Gut gefällt unserer Tochter auch der sehr viel stärkere Einsatz von Computern im Unterricht. In jedem Fach außer Sport würden die Schüler ein eigenes Notebook oder ein Tablet der Schule nutzen, um Aufgaben im eigenen Tempo zu bearbeiten.
  • Stichwort Individualisierung: Prinzessin meint, dass die kanadischen Lehrer mehr auf die Individualität ihrer Schüler eingingen. So müssten zum Beispiel im Englisch-Unterricht nicht alle die gleiche Lektüre bearbeiten, sondern könnten zwischen verschiedenen Werken amerikanischer, englischer oder kanadischer Autoren auswählen.
  • Für Prinzessin, die im Unterricht schon immer still war, ist es zudem ein großer Vorteil, dass die mündliche Beteiligung nicht so stark gewertet wird wie in Deutschland. An ihrer Hamburger Schule ist das Verhältnis in den meisten Fächern 60 zu 40 Prozent. Wer sich also viel meldet oder es versteht, den Eindruck einer lebhaften Beteiligung zu hinterlassen, wird deutlich besser benotet als die Stillen. In Kanada hat ein Lehrer unsere Tochter auf ihre Zurückhaltung im Unterricht angesprochen und ihr den Auftrag gegeben, das Buch „Quiet: The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking“ von Susan Cain zu lesen. Wie schön, oder? Da wiederholt jemand nicht gebetsmühlenartig, sie müsse sich eben mehr im Unterricht beteiligen, sondern sieht, was in ihr schlummert, und hilft ihr, sich mit ihrer eigenen Wesensart auseinander zu setzen. Wie ist es bloß gekommen, dass Schulen in Deutschland die extrovertierten Menschen so sehr fördern? Es geht doch nicht jeder in einen Beruf, in dem man ständig auf der Bühne steht oder Präsentationen halten muss.
Ich lese es jetzt auf Deutsch.

Jetzt sind wir gespannt, welche Erfahrungen sie noch bis Juni in Kanada machen wird, und genießen die letzten drei Tage mit ihr vor dem Abflug am Mittwoch.
Euch ein schönes Silvester-Fest und immer fröhlich 2018 eure Thronfolger genießen!
Uta

  • Das Kreuz mit der mündlichen Beteiligung im Unterricht kennen wir auch. Bereits seit der 1.Klasse (jetzt 8. Klasse Gymnasium) bekommen wir bei jedem Elternsprechtag zu hören, dass unser Sohn sich mehr mündlich beteiligen soll. Seine Noten sind super, nur Einser und Zweier. Er verfolgt den Unterricht stets aufmerksam, kann fast immer die passende Antwort geben, wenn er von den Lehrern aufgerufen wird, ist höflich und hat immer seine Hausaufgaben. Dies wird uns ebenfalls bei jedem Elternsprechtag bestätigt. Und trotzdem wird immer nur auf der mangelnden mündlichen Beteiligung herumgeritten. Unser Sohn ist ein stilles Kind und ich finde das völlig in Ordnung. Mittlerweile sage ich das auch so bei den Elternsprechtagen. Und weise darauf hin, das Introvertiertheit nichts Schlimmes ist. Ich finde es extrem schade, dass diese Meinung -auch unter Lehrern- weit verbreitet zu sein scheint.

  • Spannend, die Erfahrungen deiner Kinder an ausländischen Schulen zu lesen. Meine mittlere Tochter hat ein halbes Jahr eine normale neuseeländische Schule besucht und war ebenfalls vollkommen begeistert, fand sie viel besser als ihre deutsche (Waldorf!-)Schule. Neben der Tatsache, dass sie das Weltgeschehen (z.B. im Geschichtsunterricht) aus einer gänzlich anderen Perspektive kennenlernen konnte, empfand sie auch die Zusammen(!)arbeit mit den Lehrern als sehr positiv, aus den gleichen Gründen wie deine Tochter.
    Irgendwie scheint sich an deutschen Schulen nichts zu ändern, wenn ich da an meinen schulischen Leidensweg zurück denke.
    Liebe Grüße und einen guten Start ins Neue Jahr
    Andrea

  • Hallo, ich habe auch ein Jahr in einem kanadischen Internat verbracht. Auch auf eigenen Wunsch. Und mir ist jetzt 20 Jahre später noch immer in Erinnerung, wie sehr LehrerInnen sich gefreut haben, wenn wir Fortschritte gemacht haben. Es gab an einem Nachmittag in der Woche Tutorium, wo man dann einfach noch mal alle angefallenen Fragen stellen konnte. Und Engagement wurde gelobt. Ich war immer eine Sport-Niete und es gab 5x/Woche Sportunterricht. Die Bewertung war nicht über Noten, sondern schriftlich. Und bei mir stand: Du kannst das nicht so gut, aber Du strengst Dich an und gibst nicht auf. Das bewundern wir an Dir.
    Eine bessere Sportnote habe ich nie bekommen.
    Alles Gute fürs neue Jahr!
    Katrin

  • Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht als ich nach der 10. vom normalen Gym aufs Berufliche gewechselt bin. Im normalen schien es ein Wettstreit unter den Lehrern zu sein, wer die beste Klasse hat – wir hatten einige Unruhestifter und waren entsprechend unbeliebt. Die komplette Klasse würde für die paar Hansel in sippenhaft genommen und entsprechend behandelt. Auf dem beruflichen hatte man das Gefühl ernst genommen zu werden. Die Lehrer hatten die Einstellung „ich habe mein Abitur schon – du bist hier um deins zu machen und wenn du mich lässt helfe ich dir dabei“ es war unsere eigene Verantwortung wie viel wir uns beteiligen – und für diejenigen die damit umgehen konnten entsprechend entspannend. Der einzige Druck den man hatte war der den man sich selbst gemacht hat. Es gab auch kaum Strafen oder Gemecker wegen nicht gemachter Hausaufgaben oder geschwänzter Stunden – die Quittung kam dann entweder in Form von schlechten Noten in der klausur weil man was verpasst hatte, logische konsequenz statt unsinniger Strafarbeit . Die einen haben draus gelernt, die anderen nicht. Die drei Jahre waren die einzigen drei Jahre Schule an die ich wirklich mit Freude zurückdenke. Außer vielleicht der ersten Klasse in der Grundschule…

  • Liebe Uta, danke für dein Plädoyer für die Stillen in dieser Welt! Ich war eine sehr stille Schülerin und meine Tochter ist es auch. Aber im Gegensatz zu mir hat meine Tochter bis auf die Hauptfächer, in denen zum Glück noch viele Klassenarbeiten geschrieben werden, im Zeugnis in den sog. „mündlichen Fächern“ nur 3er und 4er. Zwar betonen alle Lehrer im Gespräch immer ihr Verständis für die Stillen, manche sagen sogar, sie wären froh um die Stillen, denn wenn alle 30 (auch noch so ein Unterschied zu den guten Schulen im Ausland!) Schüler laut wären, könnten die Klasse (und der Lehrer) das gar nicht verkraften. Trotzdem wäre es „ungerecht“ den anderen gegenüber, wenn sie die Stillen besser bewerten würden. Ungerecht finde ich eher, die Mentalität zu bewerten!
    Umgekehrt gibt es aber für die durch Quasseln erfolgsverwöhnten Schüler an der Uni oft ein böses Erwachen, wenn nicht mehr Quantität, sondern Qualität in den Seminaren bewertet wird und auch ein noch so selbstbewußt vorgetragenes Referat plötzlich nicht mehr mit einer 1 bewertet wird. Die Sprechstunde der Dozenten ist voll von Studenten, die die Welt nicht mehr verstehen und sich über ihre vermeintlich schlechten Bewertungen beschweren!
    Aber es hilft nichts, wir müssen mit dem System zurechtkommen und haben für uns beschlossen, die schlechten mündlichen Noten zu ignorieren. Die Kinder gehen trotzdem ihren Weg!
    Alles Liebe und viel Erfolg für die „Prinzessin“ Michaela

  • PS.: ich habe gerade gegoogelt: Es gibt von derselben Autorin auch ein Buch speziell zu Kindern und Jugendlichen:
    Still und stark: die Kraft introvertierter Kinder und Jugendlicher, (Goldmann) 2017

  • „Fördern statt Bespaßen!“ – Deutsche Schulen nehmen ihre Aufgabe ernst! Der Lehrer als Mittler zwischen Lernendem und dessen individueller Lebensplanung muss unabhängig, umfassend informiert, wohlwollend und vergleichbar unterrichten und bewerten, gegebenenfalls „erziehen“ und pädagogisch psychologisch Hilfestellung leisten, damit – und das halte ich für eine wesentliche Errungenschaft des deutschen Bildungssystems – jedem einzelnen Schüler unabhängig vom Vermögen seiner Eltern das Recht auf eine den höchsten Anforderungen entsprechende Bildung zuteil wird. Bleibt mir nur zu sagen: Eltern an die Macht, macht es besser! Anne ( Mutter von 5 Kindern / Lehrerin)

  • Hier im Sueden der USA ist der Unterricht auch sehr entspannt. Viel praxisbezogener und anschaulicher. Die Lehrer umarmen die Kinder und die Eltern gleich mit. Es ist wirklich sehr angenehm und freundlich. Allerding haben wir, Gott sei Dank, auch ein Kind, dass gerne lernt :-).
    Liebe Gruesse
    aus Florida

  • Liebe Uta,
    dein Beitrag hat mich in Gedanken viel beschäftigt, als Mutter und Lehrerin gleichermaßen.
    Meine Kinder sind etwa in Prinzessins Alter, also habe ich sie gefragt, wie sie über die Aussage der Lehrer für bzw. gegen sie denken. Sie wussten sehr wohl, was gemeint ist und haben selbst einige „gegen sie“ -Lehrer. Allerdings hängt es wohl sehr vom Lehrer ab und kann nicht allgemein für alle gelten. Außerdem gibt es wohl noch einen Unterschied zwischen Grund- und weiterführender Schule. Natürlich verbringen Lehrer und Schüler in der Grundschule viel mehr Zeit miteinander, die Beziehung ist viel intensiver und persönlicher. Das ändert sich auf der weiterführenden Schule allein schon wegen des Fachlehrersystems und der 45 Minuten-Taktung. Dennoch gelingt es manchen Lehrern besser als anderen, ein Interesse am Schüler, seinem Befinden und seinem Lernerfolg zu signalisieren. Das sind dann die Lehrer, bei denen meine Kinder das Gefühl haben, sie seien für sie. Manchmal braucht es dafür vielleicht gar nicht sooo viel Aufwand.
    Zum Umarmen: Das fänden sowohl meine Kinder als auch ich – als Lehrerin und als Mutter – unangenehm und übergriffig, auch wenn es nett und herzlich gemeint wäre. Aber damit geht es eben jedem anders.
    Einen schönen Sonntag!
    Inra

    • Liebe Inra, danke für deine eigene kleine Umfrage und deine Gedanken zum Thema! Ich teile deine Einschätzung, dass das „Gegen-sie-Sein“ nicht für alle Lehrer zutrifft. Mir fallen auch einzelne ein, die mit großem Engagement und Empathie für die Schüler ihren Beruf ausüben. Mein Eindruck ist, dass diese Lehrer nicht unbedingt Unterstützung und Ermächtigung im Kollegium finden und irgendwann ausbrennen. Schade! Liebe Grüße, Uta

  • An der Schule meines Sohnes sind auch schon viele Lehrer beschäftigt, die nur so etwas wie einen Jahresvertrag haben. Pünktlich zu den Sommerferien sind sie arbeitslos, danach werden sie meistens wieder eingestellt. Mir gefällt das nicht, wie soll man denn so als Lehrer sein Leben planen.
    Und ich musste jetzt auch mit Erstaunen feststellen, dass die mündliche Note zu einem erheblichen Teil in die Bewertung einfließt. Schriftlich ist mein Sohn leider grottenschlecht, aber mündlich kann er das sehr gut ausgleichen und ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll.
    Viele liebe Grüße
    Wolfgang

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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