Gegen den Stress, den Freiheit bedeuten kann.

Wir leben in einer Welt, die unglaublich viele Möglichkeiten bietet. Wir können Vegetarier sein oder ganze Kühe im Internet bestellen, wir können aus der Kirche austreten, eintreten, Buddhist werden oder an die „fliegenden Spaghetti-Monster“ glauben, wir können in Familie leben, alleinerziehend, in neu zusammen gesetzten Familien, wir können Mann sein oder Frau, oder es ändern, wenn wir im falschen Geschlecht geboren wurden.
Menschen werden in westlichen, liberalen Ländern immer weniger eingeschränkt, was eine große Wohltat ist. Und ich stehe voller Dankbarkeit auf den Schultern derjenigen, die sich mutig eingesetzt haben und weiter einsetzen gegen Massentierhaltung, für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern, für Religions- und Meinungsfreiheit und für Selbstbestimmung, was Geschlecht und sexuelle Orientierung angeht.
Kinder werden heute hineingeboren in diese Multi-Optionalität. Sie genießen immer mehr Freiheit von starren Regeln. Sie müssen nicht mehr blind gehorchen, den Teller leer essen, Tante Moni küssen. Und das Leben ist zu einem riesigen Büfett geworden. Lieber die Brezel mit Salz oder die mit Sesam und Sonnenblumenkernen? Lieber Wald- oder Kunstkindergarten? Lieber Hängematte oder Nestschaukel? Lieber das Romantik-Bett mit dem Sternenhimmel oder die Piraten-Koje?
So schön das auch ist, so sehr kann Multi-Optionalität zu Stress und Streit im Familienleben führen.
Mit diesen vier Kompetenzen kann man das verhindern:

  • Führungsstärke

Klar – es ist schön, wenn mein Kind die Wahl hat zwischen zwei oder drei Aufstrichen für das Frühstücksbrot. Klar – es sollte gerade in frühen Jahren möglichst viele verschiedene Speisen und Aromen freudvoll ausprobieren können. Ferner ist es völlig in Ordnung, wenn es ein Essen nicht mag und stehen lässt. Und dass ich zum Beispiel einmal in der Woche sein Lieblingsessen koche, ist eine schöne Idee. Aber dass ich jeden Tag das Gleiche koche, weil das Kind nichts anderes mag oder sofort zum Supermarkt renne, weil seine Frühstücksflocken nicht mehr im Vorrat sind und es sich weigert, irgend etwas anderes von dem übervollen Frühstückstisch zu essen, tut keinem in der Familie gut. Am wenigsten dem Kind.
Die Auswahl an Speisen (oder auch Kleidern, Ausflugszielen…) treffen die Erwachsenen. Unbedingt sind die Kinder dabei einzubeziehen. Sie sollten gehört und gesehen werden mit ihren Vorschlägen und Wünschen. Das letzte Wort aber haben Mama und/oder Papa.
Wenn das nicht der Fall ist, geraten Kinder in Stress. Sie müssen mehr Verantwortung tragen, als ihnen gut tut. Dann gibt es niemanden, an dem sie sich anlehnen, orientieren und auch reiben können, um herauszufinden, was sie als Person wirklich brauchen. Dann fixieren sie sich auf Objekte und auf bestimmte Marken und beginnen zu verinnerlichen, sie könnten nicht glücklich sein, wenn sie diese Limo nicht bekommen oder jene Marmelade ausverkauft ist. Dann entgeht ihnen die eigentliche Nahrung: die Freude daran, zusammen zu essen, zusammen etwas zu erleben, schlicht zusammen zu sein.
Sicher gibt es das, dass ein Kind bestimmte Nahrungsmittel nicht mag. Das sollte man respektieren, sollte aber nicht ein so großes Aufhebens darum machen. Sonst entwickelt es so etwas wie eine Identität: ich bin das Kind, das kein Gemüse isst, das wählerisch ist, das empfindlich reagiert auf alles, was xy enthält, …

  • Mut zur Lücke und Mut zur Fülle

Ich schreibe bewusst beides auf.
Es ist schön für Kinder, wenn sie erleben, dass es die Eltern krachen lassen können, dass sie feiern, wenn es etwas zu feiern gibt, dass es festliche Büfetts gibt zum Schwelgen und Sich-die-Bäuche-Reiben, dass es Tage gibt, die sich aus dem Alltag majestätisch hervorheben, an denen Augen zugedrückt werden, Eiskugeln sich türmen, Geschenke sich stapeln und Gesundheitsapostel nicht eingeladen werden.
Und dann tut es gut, wenn Kinder erleben, dass es auf all das keinen Anspruch gibt, dass sie auch mal mit einem alten Brot zurechtkommen oder ein paar Nudeln mit Butter. Auch das ist eine wichtige Kindheitserfahrung: ich kann mit weniger auskommen oder mit etwas anderem, als ich mir gewünscht habe.
Manchmal werden Eltern geradezu süchtig danach, ihren Kindern alles Recht und ständig eine Freude zu machen. Dann kann ich mich als Mama oder Papa fragen, welchen Mangel ich damit bei mir selbst beheben möchte und ich kann als Jeden-Wunsch-Erfüllungs-Fee oder als Superman-Papa mal eine Pause machen.

  • Entscheidungsfreude

Eine Freundin von Prinzessin erzählte von einem Urlaub, den sie mit ihrer Familie auf einem Reiterhof verbracht hat. Wenn die Kinder dort auf die Frage, welches Pony sie reiten wollten, sagten „egal“, bekamen sie das kleine Pferd mit dem Namen „Egal“. Und das war ein störrisches Pony. Seither hat eine größere Entschiedenheit und Klarheit in der Familie Einzug gehalten, weil jeder sich an seine Erfahrungen mit dem kleinen Hengst „Egal“ erinnert.
Wenn man Kindern von klein auf bei allem die Wahl lässt, entscheiden sich die Eltern für ein großes Egal.
Egal, ob du beim Essen am Tisch sitzen bleibst oder nicht. Egal, ob du mit in die Kirche kommst oder nicht. Egal, ob du deine Spielsachen im Wohnzimmer wieder wegräumst oder nicht.
Es funktioniert besser, wenn ich kleinen Menschen in der ersten Hälfte ihrer Kindheit klare Modelle vorlebe: Regeln, Rituale, Bräuche… In der zweiten Hälfte ihrer Kindheit können sie dann immer mehr gucken, was zu ihnen passt und was sie anders machen möchten.
Für Kinder ist es großartig, wenn sie Eltern haben, die für etwas stehen, die sich für etwas einsetzen und hundert Prozent darin investieren, sei es ein Hobby, eine politische Überzeugung, ein Sport, eine Religion oder Ähnliches und ihre Kinder anstecken mit ihrer Begeisterung und sie einbeziehen, statt zu sagen, ich lasse dir bei allem die Wahl und du kannst dich später entscheiden, ob du einer Religion angehören willst oder nicht, ob du Sport machen möchtest oder nicht. „Egal“ ist so saft- und kraftlos. Das ist, als würde ich am Flughafen stehen und weil ich mich nicht entscheiden kann für Rom oder Reykjavik, für Tokio oder Toronto, bleibe ich am Flughafen und friste ein Leben im Wartebereich.

  • Freiheit genießen

Es gibt Menschen, die regen sich darüber auf, dass es immer noch Omas gibt, die in Blau-Rosa-Schemata denken und stricken: blau für die Jungen, rosa für die Mädchen. Oder dass es immer noch Eltern gibt, die Mädchen eher Puppen und Jungen eher Autos schenken. Und dann wird eine Schublade aufgemacht und da kommen dann diese Eltern rein und auf der Schublade steht: „hetero-normative Eltern“. Genauso wie die Mädchen-rosa-Puppen-Schublade oder die Jungen-blau-Auto-Schublade ist das wieder eine Schublade, zwar eine relativ neue, aber auch eine Schublade. Brauchen wir das?
Vielleicht war ich auch „hetero-normativ“, weil ich Prinzessin als kleines Mädchen das eine oder andere Kleidungsstück in Rosa gekauft habe (ich liebe diese Farbe, sie aber gar nicht, was schnell deutlich wurde und Berücksichtigung fand). Und wisst ihr, was ihr Lieblingsfach momentan auf dem Internat in Kanada ist? Rugby! Ich denke, da brauche ich mir keine Sorgen wegen der Gender-Thematik zu machen.
Glauben wir wirklich, dass Farben und Spielzeuge Menschen in der heutigen Vielfalt unwiderruflich auf Rollenbilder festlegen?
Wurden früher, ganz früher, Eltern komisch angeguckt, die ihre Töchter zum Fußball schickten und ihre Söhne zum Ballett, kann es Eltern heute passieren, dass sie komisch angeguckt werden, wenn sie ihre Töchter zum Ballett und ihre Söhne zum Fußball schicken.
Das ist dann wieder das Phänomen, dass wir von der anderen Seite vom Pferd fallen.
Können wir das nicht ganz lassen mit dem komisch gucken?
Wollen wir nicht die gewonnenen Freiheiten genießen und aufhören, uns gegenseitig in Schubladen zu stecken?

Immer fröhlich Führungsstärke zeigen, Wünsche auch mal nicht erfüllen, beherzt Entscheidungen treffen und Freiheiten genießen,
eure Uta

Foto von Mica Asato von Pexels. Vielen Dank!

  • Ganz herrlich, liebe Uta!
    Ein großes dickes JA unter jeder deiner Zeilen! Besonders wichtig (für mich) ist der Punkt zur Entscheidungsfreude und Begeisterungsfähigkeit.
    (Da gibt es bei mir noch einiges an Nachholbedarf.)
    Danke mal wieder! Und die feinsten Wünsche für ein wunderherrliches Jahr!
    Die steffifee

  • Genau. Wir fahren ganz gut mit Wahlmöglichkeiten in begrenztem Rahmen. Wenn den KIndern nicht passt/schmeckt, was auf den Tisch kommt, gibt es ein Brot, Müsli oder nichts.
    Wenn ihnen unsere Vorschläge fürs Nachmittagsprogramm nicht passen, dürfen sie ihre eigenen Ideen einbringen, die dann auch zur Option stehen (wenn es sich nicht nur um Schwimmbadbesuch und Schlittschuh fahren handelt…).
    Meine Erfahrung ist: Wenn die Kinder an den Stellen wählen dürfen, wo Spielraum für Alternativen ist und ihre Wahl ernst genommen wird, dann sind sie auch an den Punkten kooperativ, wo es ein „Muss“ gibt –
    zum Beispiel, wenn es um ihre Sicherheit geht (festhalten im Bus, Termin beim Arzt) oder wenn demokratisch eine Familien-Entscheidung gefällt wird, die ihnen missfällt oder wenn wir etwas tun, das wir als Eltern wichtig finden.

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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