Beim Essen bremsen? 

 03/08/2017

Online-Coaching, Inga

Liebe Leserinnen und Leser,
in nächster Zeit werde ich gelegentlich ein Beispiel aus meiner Praxis oder aus dem Online-Coaching dokumentieren, weil ich im Frühsommer von euch die Rückmeldung hatte, dass es für viele Eltern eine Unterstützung ist, solche Beispiele zu lesen. 
Heute folgt der Austausch mit Inga*. Ihre fünfjährige Tochter Clara* (*Namen geändert)  ist etwas übergewichtig und stopft Essen – so Ingas Eindruck – nur so in sich hinein. Ihre Frage: Soll ich Clara beim Essen beschränken?
Hier unser Mail-Wechsel:
Liebe Uta,
bevor ich zu meiner Frage komme, schildere ich die Ausgangslage:
Clara ist unsere Mittlere. Sie geht seit Februar zu einer Psychologin. Dabei kommt auch das Thema „Essen“ zur Sprache. Clara isst gerne und viel. Bei 1,10m wiegt sie 22 kg und das ist echt an der Grenze. Ich selbst habe starkes Übergewicht und mein Mann ist auch nicht ganz schlank. Die beiden Geschwister sind völlig im Normalbereich. Die Psychologin sagt, dass Clara mit dem Essen einen Mangel kompensiert – war mir jetzt nicht neu :-). Ich stehe allerdings vor einem Rätsel, wie ich diesen Mangel beheben könnte. Die Psychologin gibt keine Erziehungstipps, aber genau das brauche ich. Seit der Therapie versuche ich, präsenter zu sein (nur kurze Telefonate, wenn die Kinder da sind, und möglichst kein Internet), aber inzwischen bin ich ratlos. Clara stopft sich das Essen in den Mund, bis er überquillt. Dabei gibt es bei uns immer genug und ich lobe oder strafe auch nicht mit Essen oder Süßigkeiten. Süßigkeiten gibt es gelegentlich, sind aber nicht frei zugänglich, da Clara sonst alles essen würde. Beispiel: Am Montag hatte ich Freundinnen zu Besuch. Alle haben etwas mitgebracht. Clara hat zwischen 15 und 18 Uhr Folgendes gegessen: mindestens 2 Brezeln + eine halbe Laugenstange, 2 Mini-Amerikaner und mehrere Stück Wassermelone. Gegen 18 Uhr wollte sie noch einen Amerikaner, den ich dann verweigert habe. Da hat sie sich schnell die beiden Pfirsichstücke, die noch da waren, in den Mund gesteckt.
Wie kann ich ihren emotionalen Hunger stillen?
Wie beschränke ich sie beim Essen? „Nein, du bekommst kein Brot mehr, aber deine Schwestern schon!“?
Liebe Grüße,
Inga

*

Liebe Inga,
hier kommen meine Fragen:
Was soll das Ergebnis des Online-Coachings sein? Vervollständige bitte den Satz: „In acht Wochen ….“
Nun zu dem, was du schreibst:
Wie alt ist Clara?
Du hattest mir schon einmal geschrieben. Habe ich es richtig in Erinnerung, dass Clara seit einiger Zeit nicht in den Kindergarten geht?
Du schreibst, die Psychologin behaupte, Clara stille mit Essen einen emotionalen Hunger und ironisch dazu: „war mir jetzt nicht neu :-)“ Meinst du damit, dass du sicher davon ausgehst, es handele sich um „emotionalen Hunger“?
Hat jeder Mensch, der gerne isst, einen emotionalen Mangel?
Warum sollte Clara einen emotionalen Mangel haben?
Warum dürfen die Eltern übergewichtig sein und Clara nicht?
Worüber machst du dir Sorgen?
Liebe Inga, soweit meine Fragen.
Ich bin gespannt auf deine Antworten.
Herzliche Grüße,
Uta

*

Liebe Uta,
Ziel des Coachings: In acht Wochen möchte ich mit meinem Kind im Gleichgewicht sein. Ein Bild dazu: Ich habe hier drei Eimer und die füllen sich mit Wasser und wenn einer überläuft, dann gibt es Zoff zwischen dem Kind, zu dem der Eimer gehört, und mir. Ich habe da zwei Eimer, da kommt täglich was dazu, aber eben auch wieder raus. Ein Eimer ist stets an der Grenze zum Überlaufen. Kannst Du das Bild verstehen?
Clara ist fünf Jahre und vier Monate alt. Seit zwei Monaten geht sie wieder in den Kindergarten 🙂
Ja, ich bin sicher, dass Clara keinen körperlichen Hunger hat. Wenn z.B. Besuch an der Tür ist, dann ist sie ganz schnell fertig mit dem Essen. Nach der Essensmenge bei dem Nachmittagsbesuch hat es sich auch nicht um die erste Nahrungsaufnahme des Tages gehandelt 😉
Nein, ich glaube nicht, dass jeder Mensch, der gerne isst, einen emotionalen Mangel hat. Ich habe aber das Gefühl, dass Clara über den normalen Hunger hinaus isst. Ich habe bisher keine Vorgaben gemacht. Meine beiden anderen Kinder essen mal mehr, mal weniger, aber das gibt es bei Clara praktisch nicht. Ich habe immer gedacht, dass Kinder ein Gespür dafür haben, aber Clara hat da wohl keines.
Ich glaube, dass Clara einen emotionalen Mangel hat, weil sie erst 21 Monate alt war, als ihr Bruder geboren wurde. Kaspar war die ersten vier Monate nachmittags und abends nur an der Brust ruhig. Das restliche erste Jahr hat er nur bei mir auf dem Rücken tagsüber in den Schlaf gefunden und dann auch nur 20 Minuten lang. Am Ende des Jahres war ich völlig am Ende. Das war so extrem, dass ich plötzlich nachvollziehen konnte, warum Mamas Kinder schütteln oder ihre Kinder allein lassen und nicht mehr wiederkommen. Unter dieser Situation hat natürlich Clara am meisten gelitten. Sie hätte mich nötig gebraucht und ich war nicht für sie da. Ich habe es nicht geschafft, mir Hilfe zu holen, und habe nicht gesehen, wie sie gelitten hat. Ich habe immer gedacht, morgen wird es besser.
Sie hat nun eine Entwicklungsverzögerung, die sie dank der Therapie langsam aufholt. Und ich glaube, dass sie in diesem ersten Jahr mit Kaspar so „verhungert“ ist, dass sie sich nicht richtig entwickeln konnte.
Zur Frage, warum die Eltern übergewichtig sein dürfen und Clara nicht: Zumindest für mich kann ich sagen, dass ich nicht gerne übergewichtig bin. Ich kämpfe auch mal mehr, mal weniger dagegen an, aber neben allem, was ich auch noch „soll“, kommt das eben zu kurz. Ich hatte auch mal weniger Kilos, aber gerade habe ich nicht genügend Schwung, mich darum zu kümmern. Ich kenne die Hänseleien aus der Schule und weiß eben, dass Kilos, die früh dazu kommen, später gerne dauerhaft bleiben. Das möchte ich meinem Kind ersparen. Ich mache mir Sorgen, dass Clara noch stärker übergewichtig wird und die Kilos bleiben und sie dann in der Schule ausgelacht wird. Zudem möchte ich sie ohne diese Last ins Leben schicken.
Liebe Grüße,
Inga

*

Liebe Inga,
hier kommen die nächsten Fragen:
Das Bild mit den Eimern verstehe ich nicht. Was ist in den Eimern?
Du schreibst, Clara sei zu kurz gekommen in der Zeit, als der Kleine dich so sehr gebraucht hat.Was hat sie gemacht, als du mit dem Baby beschäftigt warst?
Was hat die Älteste gemacht in der Zeit?
Konnte dein Mann sich um die beiden größeren Mädchen kümmern?
Hast du dich dafür anerkannt, dass du die extreme Belastung durchgestanden hast?
Clara ist jetzt gut fünf Jahre alt. Bis sie 21 Monate alt war, hattest du Zeit für sie. Dann kam etwa ein Jahr mit sehr viel Stress und wenig Zeit sowohl für Clara als auch für die Älteste. Ist das richtig?
Du bist nicht außer Haus berufstätig und widmest dich ganz den Kindern, deinem Mann und dem Haushalt. Ist das richtig?
Clara ist eine Zeit lang nicht in den Kindergarten gegangen. Wie lange war das?
Sie war dann bei dir und dem Kleinen zu Hause. Ist das richtig?
Was habt ihr vormittags gemacht?
Du hast für Clara eine Psychologin gesucht. Seit Februar geht sie dort hin und macht gute Fortschritte (wieder trocken, wieder im Kindergarten …). Ist das richtig?
Macht Clara Sport?
Viele Grüße
Uta

*

Liebe Uta,
das Bild mit den Eimern habe ich gewählt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist. In dem Eimer sammeln sich die kleinen Reibereien des Alltags und irgendwann bringt der letzte Tropfen den Eimer zum Überlaufen. Manchmal ist das nur eine Kleinigkeit, die dann zum Konflikt führt. Meine Große stresst mich sehr beim Thema Hausaufgaben (das „füllt“ den Eimer), aber wenn wir dann ein entspanntes Gespräch über andere Themen und eine Kuschel-Runde hatten, „leert“ das den Eimer wieder. Kaspar macht gelegentlich einen Mittagsschlaf und wenn er dann geweckt wird, schreit er manchmal 20-30 Minuten. Das stresst mich und „füllt“ den Eimer. Wenn er später wieder entspannt ist und einfach so sagt: „Du bist die allerbesteste Mama der Welt“, dann ist der Eimer wieder „leer“. Nur bei Clara scheint das nicht zu klappen. Kannst du jetzt was damit anfangen?
Als ich mich ununterbrochen um Kaspar kümmern musste, kam Clara zum Kuscheln, was aber schwierig war, da ich immer Angst hatte, dass Kaspar aufwacht und schon wieder schreit, was mir schon gedanklich Schweißausbrüche verursachte. Manchmal hat sich Clara dann mit ihrer Decke und der Puppe an meine Füße gekuschelt. Mir bricht es noch immer das Herz, wenn ich daran denke.
Ella, die Älteste, war da schon im Kindergarten und hat auch gerne CDs gehört oder war mit einem Gespräch zufrieden. Clara konnte zu dem Zeitpunkt noch gar nicht sprechen.
Du fragst, ob mein Mann sich auch um die Kinder kümmern konnte. Das hat er schon gemacht, wenn er denn da war. Zwei Monate nach Kaspers Geburt hat er erste Schritte in die Selbständigkeit gemacht. Ich habe ihm noch aus dem Wochenbett heraus zugearbeitet.
Habe ich mich dafür anerkannt, die Zeit der extremen Belastung ohne Entgleisung durchgehalten zu haben? Schlecht. Ich sehe meist nur, dass ich mir keine Hilfe geholt habe und meine Mittlere bis heute darunter leidet.
Du fragst, ob ich Zeit für Clara hatte, ehe ihr kleiner Bruder geboren wurde. Ja, im Prinzip schon. Ich habe ab ihrem 13 Lebensmonat wieder stundenweise im Homeoffice gearbeitet und die große Schwester war ja auch noch da.
Nicht außer Haus berufstätig? Ja, aber ich habe nach Claras erstem Geburtstag wieder stundenweise im Homeoffice gearbeitet, bis ich dann in Mutterschutz ging. Und als sie drei Jahre alt war, habe ich diesen Job auch wieder gemacht. Kurz vor ihrem fünften Geburtstag habe ich aufgehört (Job passte nicht mehr, mein Mann ist in diesem Jahr wenig zu Hause und so war es immer schwieriger, die Zeit zu finden, da Clara ja nicht im Kindergarten war.) Jetzt bin ich gerade eine Latte-Macchiato-Mama 🙂
Clara ist fast genau ein Jahr nicht in den Kindergarten gegangen, weil sie partout nicht mehr wollte. Von Mitte April 2016 bis Mai 2017. Wir haben da verschiedentlich Anläufe unternommen (neue Eingewöhnung, Eingewöhnung gemeinsam mit Kaspar), aber nichts hat gefruchtet. Jetzt kam es ganz von alleine, dass sie wieder in den Kindergarten ging. Aber von April bis Anfang Oktober war sie mit Kaspar zuhause und dann alleine, als er in den Kindergarten kam.
Was wir vormittags gemacht haben? Als Kaspar noch da war, hat sich entweder mein Mann oder ich um die Kinder gekümmert. Wir haben kein spezielles Kinderprogramm gemacht, sondern eben den täglichen Kram (Haushalt, Einkaufen, Wäsche). Das Kinderprogramm gab es dann nachmittags gemeinsam mit der großen Schwester. Als Kaspar im Kindergarten war, habe ich morgens oft ca. 1-2 Stunden im Homeoffice gearbeitet. Wenn ich das Gefühl hatte, dass Clara es gar nicht aushält, dann habe ich mich um den Haushalt gekümmert. Da konnte sie dann besser dabei sein. Ich wollte es ihr nicht zu „schön“ machen, da ich ja gehofft habe, dass sie das motiviert in den Kindi zu gehen. Donnerstags sind wir vormittags in einen Mutter-Kind-Treff gegangen. Wenn mein Mann da war, dann hat er sie auch mal mit einbezogen. Etwa einmal pro Woche sind meine Schwiegereltern gekommen und haben sich mit Clara und sobald die anderen dann auch da waren, mit allen Kindern beschäftigt, damit ich arbeiten konnte.
Ja, die Fortschritte durch die Psychologin sind echt mega: mein Kind malt nun auch Kopffüßler, kann auf einem Bein hüpfen… Sie war in vielen Dingen sehr hinterher. Sogar ihre undeutliche Sprache hat sich stark verbessert. Bei der Einschulungsuntersuchung war sie aber bei Grob- und Feinmotorik noch immer stark auffällig. Nur zur Richtigstellung: Clara ist bis zu diesem Jahr nie trocken gewesen. Anfang März hat es dann plötzlich tagsüber geklappt und seit Juni ist sie auch nachts trocken.
Sport? Einmal in der Woche geht Clara zum Kinderturnen. Wir haben kein Auto und sind somit viel zu Fuß unterwegs. Allein der tägliche Weg zum Kindergarten und zurück beträgt etwa zwei Kilometer. Sie hat nun auch Fahrradfahren gelernt.
Ich hoffe, du findest Dich mit meinen Antworten zurecht.
Liebe Grüße,
Inga

*

Liebe Inga,
ich fasse zusammen:
Für Clara gab es eine Zeit, etwa ein Jahr lang, in der du ihr wenig Zeit und Nähe geben konntest. Das war, als sie knapp zwei bis sie knapp drei Jahre alt war.
Clara hat ein Zuhause mit einer Mama, die sich hauptsächlich den Kindern widmet. Und einem Papa, der viel unterwegs ist, sich aber kümmert, wenn er zu Hause ist.
Es gibt Schwiegereltern, die exklusive Zeit mit Clara verbracht haben.
Du hast Clara ein Jahr lang zu Hause behalten, weil sie nicht in den Kindergarten wollte. Damit hat sie so viel Nähe zu ihrer Mama erfahren wie kaum ein Kind in ihrem Alter.
Hier könnte man interpretieren, wie stark Clara ist, dass sie wusste, was sie brauchte, und dass sie sich das genommen hat. Und als sie ihren „Speicher“ aufgefüllt hatte, ist sie von einem auf den anderen Tag wieder in den Kindi gegangen.
Du hast mit ihr ein Mutter-Kind-Treffen besucht und schließlich eine Psychologin für sie ausfindig gemacht, bei der sie enorme Fortschritte gemacht hat: im Malen, motorisch, sprachlich, sie geht wieder in den Kindi und auch sonst wo hin, sie ist trocken.
Du hast damit für deine Tochter innerhalb kürzester Zeit sehr viel bewegt.
In Grob- und Feinmotorik ist sie noch stark auffällig.
Sie isst gerne und kennt – so deine Wahrnehmung – kein Maß dabei.
Du fürchtest, dass sie dick wird und die Pfunde nicht wieder los wird.
Du bist dir sicher, dass der Grund ihres Essverhaltens „emotionaler Hunger“ ist, eine Art Ersatzbefriedigung. Und du folgerst daraus, dass du diesen emotionalen Hunger stillen musst, damit Clara aufhört, unmäßig zu essen.
Jetzt kommt meine Interpretation:
Das mit dem „emotionalen Hunger“ ist für mich der Knackpunkt: Das ist deine Interpretation und vielleicht auch eine Interpretation der Psychologin. Für mich hört es sich so an, als hättest du gar keine Frage mehr dazu.
Kindern weltweit passiert es, dass ihre Mutter, vor allem wenn sie mehrere Kinder hat,  ihnen mal eine Phase lang nicht so viel Nähe schenken können, wie es vielleicht ideal wäre. Folgt daraus zwangsläufig ein emotionaler Mangel? Gibt es darunter nicht zahlreiche Kinder, die starke und selbstbewusste Erwachsene wurden?
Die Folgerung: „mein Kind hatte im Alter von …. wenig Nähe = es muss eine emotionale Lücke geschlossen werden“ ist nicht zwingend.
War vielleicht Clara sogar die Stärkere und hat sich (mit Puppe und der Nähe zu deinen Füßen) geholt, was sie brauchte, während Ella ihren (eventuellen) Mangel nicht zeigte, sich mit Gesprächen und CDs äußerlich zufrieden gab?
Das sind alles Spekulationen, die uns nicht weiterhelfen. Ich will damit nur aufzeigen, dass es Interpretationen und keine Tatsachen sind und man die schwierige Zeit auch anders deuten könnte.
Das aber, wovon wir überzeugt sind (bei dir: „Clara leidet emotionalen Mangel.“) steuert unser Handeln. Wir sehen alles nur noch durch diese Brille, sammeln Beweise dafür. Unsere Interpration wird in unseren Augen zu einem Faktum und so schaffen wir für uns und unsere Kinder langsam, aber sicher eine Realität.
Wenn uns diese Realität gefällt, alles gut. Falls nicht, hast du die Möglichkeit, dir die innersten Überzeugungen, die dich steuern, anzugucken und zu wandeln.
Meine Empfehlung:
Mache deine Frieden mit dem ersten Jahr mit Kaspar. Du hast dein Äußerstes gegeben und das getan, was du in der Situation für das Beste gehalten hast. Das übliche „hätte“, „könnte“, „sollte“ zieht dir nur Energie ab. Dann bist du mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Und deine Kinder brauchen dich jetzt. Also weg damit!
Ich empfehle dir, damit aufzuhören, Clara als schwach anzusehen oder als ein Kind, das einen Mangel leidet. So erschaffst du die Möglichkeit, dass sie sich diesen „Schuh anzieht“ und sich selbst so wahrnimmt. Sie könnte dann so eine Haltung entwickeln wie: „weil ich damals zu wenig Liebe erfahren habe, … darf ich unbegrenzt Süßigkeiten essen, …. muss man in der Schule auf mich Rücksicht nehmen, …. konnte ich kein gutes Abitur machen, …. war ich nicht liebenswert genug, einen Partner zu finden… Viele Menschen praktizieren so etwas ihr Leben lang.
Mit der These „emotionaler Hunger“ macht man ein Fass auf, das nicht zu füllen ist. Wann sollte Clara davon genug haben? Solch ein „Fass“ treibt einen in die Verausgabung und dann gibt es auch keine Liebe mehr für einen selbst (man hat dann auch keine Zeit mehr, sich etwas Gutes zu tun) und die Liebe insgesamt bleibt auf der Strecke, obwohl man genau das Gegenteil erreichen wollte und es soooooo gut gemeint hatte.
Ich empfehle dir, wach darüber zu werden, wie du Clara siehst. Führst du jedes Verhalten auf die „schwierige Zeit“ damals zurück? „Drückt sie diesen Knopf“ vielleicht schon bei dir? Wenn du das wandelst, kann das sehr ermächtigend für Clara werden.
Ich würde sie weder maßlos essen lassen noch ihr eine Diät auferlegen. Auch hier gibt es einen dritten Weg, der aus dem System herausführt, in dem man feststeckt: selbst mit Freude und Genuss essen und mit Freude und Genuss den Sport machen, den man mag, und den Kindern das vorleben (super mit Kinderturnen, Fahrradfahren und zwei Kilometern zu Fuß!!). Wahrscheinlich machst du das schon: gut und gesund essen. Dann genießt es und verzeiht euch auch kleine Sünden. Nichts ist ansteckender als Freude. Nichts „törnt mehr ab“ als Kontrolle und Perfektionismus (das hat auch so etwas Unersättliches).
Ich würde deshalb darauf achten, möglichst wenig Süßigkeiten im Haus zu haben und sonst genussvoll zu essen. Und Clara würde ich essen lassen, worauf sie Lust hat. Schon dein kontrollierender Blick kann dazu führen, dass sie sich schnell noch etwas reinstopft, weil sie spürt, dass du nahe dran bist, es für sie zu begrenzen.
Deshalb mein Tipp: Nimm es locker mit dem Essen bei Clara und habe Geduld mit ihr. Sieh nicht auf die Defizite, sondern auf ihr Potenzial. Sie hat in letzter Zeit schon so große Fortschritte gemacht!
Wie klingt das für dich? Kannst du damit etwas anfangen?
Herzliche Grüße
Uta

*

Liebe Uta,
vielen Dank für deine konkreten Tipps. Ich habe deine Sichtweise mit meinem Mann gelesen und besprochen. Vor allem die Sichtweise, Claras Fernbleiben aus dem Kindi als Stärke zu sehen, war uns abhanden gekommen. Wir werden die gemeinsamen Mahlzeiten noch stärker in den Blick nehmen und sehen, ob wir daran noch etwas verbessern können, um sie ruhiger und genussvoller zu machen.
Wir werden das Thema „emotionaler Hunger“ etwas hinten anstellen und mal sehen, ob uns das weiterbringt. Die nächsten Wochen gibt es ohnehin keinen Termin bei der Psychologin. Besonders mein Mann empfand deine Sichtweise sehr erleichternd. Ich werde den neuen Blick auf Clara in dieser Woche gleich mal üben. Wir haben nämlich drei Tage gemeinsame Zeit, ohne Papa und Geschwister.
Vielen Dank für Deine Unterstützung.
Liebe Grüße
Inga (werde mich sicher im September nochmals bei dir melden. Selbst schuld, deine Tipps waren zu gut ;-))

Titelbild von Elina Fairytale von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    danke für diesen Beitrag! Ja, er hilft auch uns anderen Eltern.
    Ich kann aus Deinem Text viel wertvolles für mein Familienleben entnehmen, denn auch meine Sichtweise braucht die freundliche Aufforderung zum Wechsel ins Positive.
    Vielen Dank!

  • Danke Uta! Meine Tochter ist ähnlich „gebaut“ wie Ingas; ich habe es zwar nie als emotionalen Hunger interpretiert, aber mir immer besorgt ihren Bauch angesehen und bei jedem Gummibär gesagt: „Dann ist aber gut, das ist nicht gesund!“ (dass man dick davon wird, habe ich bewusst nicht gesagt, aber Kontrolle und „Genussverleidung“ ist es trotzdem –> abtörnend, wie Du so schön schreibst!). Für mich mein Fazit: wir essen weiter wie bisher, sie kennt die Regeln bei den Süßigkeiten und hält sich gut daran und ich schaue dann einfach innerlich weg! 🙂
    Viele Grüße

  • Liebe Uta,
    vielen Dank, dass du diesen Briefwechsel mit uns teilst. Für deine wunderschöne und entspannte Sichtweise liebe ich dich!
    Wie schön könnte diese Welt sein, wenn wir uns alle (auch familienübergreifend) viel mehr als großartige Wesen wahrnehmen würden! Was für mächtige Energien könnten wir freisetzen… was für grandiose Realitäten schaffen!
    Mach weiter so – du hilfst damit vielen, die Perspektive zu wechseln!
    Papagena

  • Danke, liebe Papagena! Wie schön, mal wieder von dir zu hören. Gestern habe ich gesehen, dass du wieder etwas gepostet hast. Wie schön! Herzliche Grüße in den Süden!
    Uta

  • Danke für diese ganzen so erhellenden Zeilen! Nachdem wir selbst das Glück eines Coachings bei dir hatten (und immer noch davon zehren und es uns beeinflusst, aber es ist Arbeit;-) ) finde ich es auch total hilfreich und inspirierend solch andere Mailwechsel mit anderen Themen zu lesen. Auch deine Sichtweise zu und über „Sadia“ fand ich ganz ganz spannend. Einfach nochmal Danke an dieser Stelle!!!

  • Liebe Uta,
    diesen Austausch zu verfolgen, ist für mich sehr hilfreich. Zum einen sortiert sich bei mir schon Vieles, wenn ich mir vorstelle, ich würde Dir davon erzählen. Wenn ich dann dazu im Geiste deine Antworten vor mir sehe, dann fallen die sehr viel weniger destruktiv aus, als die Stimme in mir drin. Danke also für deine ermutigende positive Arbeit.
    Viele Grüße
    Lucia

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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