Bin dann mal weg, ihr Streithähne! 

 11/11/2020

Antwort auf eine Leserfrage und die Gewinnerin des Kalenders

Heute greife ich von den Fragen, die ihr mir geschickt habt, das Thema „Geschwisterstreit in den Zeiten der Corona-Pandemie“ auf. 

Sarah schrieb: 

Liebe Uta, meine dringlichste Frage ist (immer wieder), wie wir hier bei uns gut und nervenschonend mit den ewigen Streitigkeiten und der Konkurrenz zwischen unseren beiden Jungs (7 und 9) umgehen können. Die sind bei mir Energieräuber Nummer 1.

Nach fast 14 Tagen Isolation mit Corona ohne Garten oder andere Möglichkeiten zum Austoben ist die Frage aktueller denn je…

Viele Grüße,

Sarah

Liebe Sarah,

vielen Dank für dieses Thema! Du könntest dich fragen, welchen Nutzen deine Jungs von ihren Streitigkeiten haben. Auch wenn die Frage auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag (was sollten sie davon haben, immer wieder in Streit zu geraten?!), bin ich davon überzeugt, dass wir Menschen alles mit einer für uns positiven Absicht tun. Irgendeinen Vorteil ziehen wir immer aus dem Drama, das wir anzetteln, sonst würden wir es nicht tun. Ich habe gerade auch ein Drama mit meinem Mann bühnenreif hier auf die Steinfliesen gebracht und bin gerade dabei, mir auf die Schliche zu kommen, was das sollte. 

Wissen deine Jungs vielleicht, dass du nichts mehr verabscheust als Streit? Haben sie tief in sich abgespeichert, dass sie dich damit immer „kriegen“? Wirst du garantiert das Buch zur Seite legen, das du endlich in Ruhe lesen wolltest, weil sich die Jungs wieder fetzen? 

Oder könntest du dir vorstellen, einen kleinen Spaziergang zu machen, wenn es hoch hergeht? „Ich bin dann mal weg, ihr Streithähne!“ 

Photo by Andrew Seaman on Unsplash

Warum fühlst du dich verantwortlich für ihre Konflikte? Wegen Corona? Weil der Große es schwer hat im Leben, der Kleinere aber auch auf seine Art? Und ist das überhaupt wahr, dass sie es schwer haben?  … falls du das denkst.

Ja, so aufeinander zu hocken wie in Lockdown-Zeiten, ist stressig. Keine Frage. Es gibt kaum Ausgleich, der Vereinssport fällt weg und Freunde kann man auch kaum treffen. Dass es da ab und zu knallt, ist verständlich. Aber Dauerstreit muss nicht sein. 

Würden die Jungs ohne Corona-Beschränkungen weniger streiten? Gibt es andere Möglichkeiten, Stress abzubauen als durch Streit? Welche würden dir einfallen? Und hättest du in Corona-Zeiten vielleicht auch das Recht auf etwas Ruhe, statt als zerrupfter Friedensengel zwischen den Kindern zu flattern? 

Überprüfe mal, ob dir Gedanken im Kopf herumschwirren wie „Jonte hat es ja auch schwer, weil …“ - „Ich muss Tim beispringen wegen …“ - „Jonte könnte sich benachteiligt fühlen durch …“ - „Ich muss ausgleichen, dass Tim…“ Nimm mal Papier und Bleistift und schreibe alle Gedanken ungefiltert auf, die hochkommen. Und dann  überprüfe, ob sie wirklich wahr sind.

Neulich kam ich abends von einer Veranstaltung zurück. Ich hatte zum Bahnhof sprinten müssen, um die S-Bahn nach Hause noch zu bekommen, und war auf dem Gehweg hingeschlagen, weil ich im Dunkeln eine Wurzel übersehen hatte. Mir war nicht viel passiert. Ein Knie war etwas aufgeschlagen und die Strumpfhose kaputt. Der kleine Unfall aber hatte mich in den Opfer-Modus versetzt. Innerlich zerschmettert saß ich in der S-Bahn und sah stumpf auf das vollgekritzelte Polster mir gegenüber. Da fiel mir ein, dass ich den neuen Kalender „Der andere Advent“ in der Tasche hatte, schlug ihn an einer x-beliebigen Stelle auf und las die Geschichte einer Frau, deren Kinderwunsch über die Jahre unerfüllt geblieben war. Die Verwandten geben sich jedes Jahr Mühe, laden sie reihum an Heiligabend zu sich ein. Für die Nichten und Neffen gehört sie zum Inventar von Weihnachten wie die Goldpapierengel mit den staubigen Locken. Aber nein. Dieses Jahr beschloss sie, Weihnachten allein zu feiern und es mit sich nett zu machen: feines Essen, Champagner, ein oder zwei schnulzige Filme, schließlich Spaziergang vorbei an den Weihnachtszimmern der anderen. Die Frau war im Reinen mit sich und ihrem Heiligabend. Trotzdem erfüllte mich ihre Geschichte mit einer so tiefen Dankbarkeit für meine Familie, dass ich das aufgeschlagene Knie vergaß, noch tagelang dieses friedliche Glühen in mir spürte und mein Sein mit Mann und unseren großen Kindern aus tiefster Seele genoss.

Warum schreibe ich das? Weil ich wieder mal am eigenen Leib erfahren hatte, wie sich alles verändert, wenn wir den eigenen Standpunkt verändern. Ich kann denken: „Mit Corona ist ja auch alles so schwierig. Kein Wunder, dass sich meine Kinder streiten. Die Pandemie ist wie ein Brennglas für die Probleme, die wir sowieso schon haben. Wie sollen wir die nächsten Wochen bloß schaffen?“ Oder ich kann mich auf den Standpunkt stellen: „Ja, es sind herausfordernde Zeiten, aber wir haben uns. Mama, Papa, zwei Kinder, eine behagliche Wohnung. Wir können es uns nett machen. Wir haben vielleicht weniger Termine und mehr Zeit zum Vorlesen oder Spielen. Wir nutzen Corona nicht als Vorwand, ein Scharmützel nach dem anderen zu führen. Das lasse ich auch nicht durchgehen. Und wenn es doch wieder hoch her geht, nehme ich Mantel und Mütze und gehe zum Lichterketten-Staunen in unserem Viertel. Und wer mitgehen will, kommt an meine Hand und wir hüpfen in die Laubhaufen. Auch im November mitten in Pandemie-Zeiten kann ich es uns nett machen.“

Jetzt fehlt nur noch das „Amen“, aber ihr bekommt noch ein paar Tipps:

  • Sich fragen: Welchen Nutzen haben meine Kinder von ihren ewigen Streitereien? Dampfablassen? Aufmerksamkeit? Mich auf ihre Seite ziehen? Opferstatus zementieren? 
  • Wenn man die Absicht dahinter erkannt hat, kann man sie vielleicht auf eine andere Weise erfüllen.
  • Sich selbst Ruhe und Erholung gönnen, sich zurückziehen, spazieren gehen und wieder in die eigene Kraft kommen. Das strahlt auf den Rest der Familie aus.
  • Mit allen in den Wald fahren. Warum nicht auch im Dunkeln? „Waldduschen“ tut immer gut. Und die Aufregung einer kleinen Nachtwanderung mit Taschenlampen stärkt die Gemeinschaft.
  • Den eigenen Standpunkt wechseln. Weg mit der Angst, hin zu Dankbarkeit und Liebe.

Immer fröhlich Doreen gratulieren, die „Der andere Advent für Kinder“ gewonnen hat,

Eure Uta 

PS1: Doreen, maile mir bitte deine Anschrift!

PS2: Danke, Sarah, für deine Frage und dein Feedback zu meinem neuen Buch. Ich habe mich sehr darüber gefreut.

  • Liebe Uta,
    danke, ein so guter Beitrag. Die Opferrolle einzunehmen oder jemandem zuzuschreiben kenne ich auch sehr gut, sobald es mir auffällt, schalte ich einen Gang zurück. Unsere Jungs spielen noch viel im Wohnzimmer um uns herum und wenn es mir zu bunt wird, schicke ich sie gerne nach oben in ihre Zimmer spielen, zusammen oder getrennt, mir ganz egal, Meistens dauert es keine 5 Minuten, bis sie, ohne meine Argusaugen, wieder schön miteinander spielen.
    Viele Grüße
    Lisa

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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