Leserfrage

Hallo Uta,
wir haben zu Hause derzeit mit unserer achtjährigen Tochter ein Problem. Ich dachte mir, vielleicht kannst du mir ja dafür einen Tipp geben. Sie kommt abends oder bevor wir wegfahren nicht von der Toilette, sitzt bis zu einer halben Stunde am Ende meist mit Gebrüll auf der Toilette. Sie hat das Gefühl, immer noch zu müssen, obwohl alle Tröpfchen herausgepresst wurden. Unsere Nerven liegen mittlerweile blank. Ich bin davor, zum Kinderpsychologen zu gehen, da organisch alles gut ist. Hast du einen Rat?
Danke im Voraus und liebe Grüße,
Helen

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Liebe Helen,
danke für deine Frage!
Ich kann deine Sorge gut verstehen, weil wir genau in dem Alter, in dem eure Tochter jetzt ist, ein ähnliches Problem mit einem unserer Kinder hatten. Es war auch in der Grundschulzeit. Und zwar Waschzwang. Unser Kind hatte das Bedürfnis, sich alle paar Minuten die Hände zu waschen. Besonders schlimm war das in einem Urlaub. Die Türklinken in der Ferienwohnung wurden nur mit einer durch den Ärmel geschützten Hand angefasst, mitten in der Nacht wurden wir geweckt, weil unser Kind baden wollte. Wir waren völlig ratlos, weil der Schmutz natürlich nur eingebildet war.
Bald nach diesem Urlaub habe ich etwas für mich getan, nämlich an einem Persönlichkeitstraining teilgenommen. Offenbar hat sich meine Veränderung auf die ganze Familie ausgewirkt. Denn kurze Zeit danach war die Zwangsstörung unseres Kindes wie weggeblasen. Das war – glaube ich – das Faszinierendste, was ich je erlebt habe. Und es hat mir die Augen dafür geöffnet, warum es so sinnvoll ist, Familie als System anzusehen. Wenn ein Kind Probleme hat, kann man das einfach nicht isoliert und nur auf das Kind bezogen betrachten. So eine Störung ist immer ein wichtiger Hinweis auf einen Konflikt in der Familie, in der Schule oder in seinem Freundeskreis. Für die damit verbundenen Gefühle findet das Kind durch eine Ersatzhandlung ein Ventil, auch wenn das Verhalten völlig irrational ist. Dieser Konflikt muss gar keine so große Sache sein, kann das Kind aber trotzdem sehr unter Druck setzen. Eine Hänselei vielleicht oder eine Angst bezogen auf die Zukunft der Familie oder Ähnliches.
Ich würde auf jeden Fall bald etwas unternehmen. Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort schreibt in seinem Buch „Kindersorgen„: „Jede Zwangsstörung ist möglichst frühzeitig und möglichst effektiv zu behandeln.“ (Seite 195) Denn bei Zwangsstörungen bestehe die Tendenz, dass sie chronisch werden, wenn sie über Monate oder Jahre nicht therapiert würden. Ihm sei es bei diesem Thema lieber – so der Professor – die Eltern kämen früh. In den meisten Fällen könne er sie beruhigen und wieder nach Hause schicken. Wenn ihm dagegen das Kind erst nach ein oder zwei Jahren vorgestellt würde, könnte es gut sein, dass sich die Zwangshandlung so verfestigt habe, dass es schwer zu therapieren sei.
Deshalb, liebe Helen, würde ich mir tatsächlich einen erfahrenen Kinderpsychiater suchen und mir dort zeitnah einen Termin geben lassen. Es kann gut sein, dass ihr schnell Entwarnung bekommt und sich schon dadurch die Lage so entspannt, dass die langen Toiletten-Sitzungen bald kein Thema mehr sind. Zudem würde ich mal vorsichtig nachforschen, was eure Tochter gerade belasten könnte. Und wenn du darüber hinaus nachhaltig für das ganze System „Familie“ etwas tun möchtest, kannst du mir gerne noch einmal eine Mail schreiben. Dann sende ich dir Infos zu dem Coaching-Wochenende, das uns so geholfen hat.
Ich grüße dich herzlich und wünsche euch, dass sich die Lage mit eurer Tochter bald wieder entspannt.
Immer fröhlich mir ruhig eine Frage schicken,
Uta

  • Liebe Uta,
    ich kann deine Beantwortung zur Frage sehr gut nachvollziehen.
    Ich möchte zu dem Thema noch beitragen, dass es mir als Erwachsene auch ab und zu so geht wie der Tochter der Fragestellerin.
    Vor wichtigen Besprechungen, wo ich weiß, dass ich für die nächsten Stunden nicht raus komme, vor längeren Wanderungen, wo ich weiß, dass ich keine Toilette haben werden etc. geht es mir auch so, dass ich ständig auf Toilette renne. Ich muss dann auch tatsächlich immer.
    Ich versuche mir, so weit es geht eine Grenze zu setzen. Wirklich nur noch einmal zu gehen und dann los zu machen. Manchmal geht es gut. Manchmal sitze ich nach 5min in der Besprechung/ im Auto schon wieder hibbelig da und muss dann auch wirklich dringend.
    Die Angst, nicht gehen zu können, ist eine reine Kopfsache. Tatsächlich werde ich selten schräg angeguckt, wenn ich in der Besprechung aufstehe und auf die Toilette gehe.
    Bei längeren Autofahrten/ Ausflügen gibt es eigentlich auch immer eine Möglichkeit irgendwo anzuhalten. Das versuche ich, mir auch immer vorher zu sagen.
    Als Kind ging mir das schon eine kurze Zeit lang so, abends vor dem schlafen gehen und vor längeren Fahrten. Nachts hatte ich Angst, als großes Kind einzupullern. Bis mir mal erklärt wurde, dass wenn es passiert, es nicht schlimm ist bzw. man von dem Bedürfnis in der Regel wach wird. Das hat mich sehr beruhigt. Die Angst, bei längeren Fahrten nicht auf Toilette gehen zu können, begründete sich daher, dass ich mich nicht getraut habe zu sagen, dass meine Eltern am nächsten Rastplatz ranfahren sollen bzw. auch die Gedanken, die müssen ja gar nicht, ich bin nicht richtig. Auch da hat das Gespräch geholfen, dass es kein Problem ist anzuhalten und nur weil meine Eltern nicht müssen, heißt das nicht, dass ich deswegen nicht darf.
    Liebe Grüße
    Meli

    • Ich habe „Das Training“ absolviert. Das ist der Grundkurs. Er ist die Voraussetzung für die Aufbautrainings. Nach dem Grundkurs setzte der Wandel im Leben meiner Familie ein. LG Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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