Gänsehaut-Momente 

 16/06/2018

Teil 2 des Interviews mit Familienberaterin Claudia Hillmer

In der ersten Folge hat Claudia beschrieben, was Juuls Paradigmenwechsel in der Beziehung zwischen Erwachsen und Kindern in der eigenen Familie, aber auch in der Schule bewirken kann. Und wie wir gut miteinander leben können, wenn wir den Mut haben, zu unseren ganz persönlichen Bedürfnissen und Werten zu stehen. 
In dieser Folge geht es um die Beratung selbst. Claudia ist es sehr wichtig, sich mit der ganzen Familie zu treffen und nicht nur mit einem Elternteil.
Aber lest selbst!

Familienberaterin Claudia Hillmer

*

Nachdem du dein erstes Buch von Juul „Dein kompetentes Kind“ verschlungen hattest. Wie ging es dann weiter?
Dann habe ich alles gelesen, was Juul je geschrieben hat. „Grenzen, Nähe und Respekt“ war – glaube ich – das Zweite. Aber da bin ich mir nicht sicher. Da müsste ich in meinem Bücherschrank in der Praxis gucken, welches am Zerfleddersten aussieht. Dann habe ich wirklich so ziemlich alles gefressen und war sehr dankbar, dass ich ihn damals gehört habe, als er in Hamburg im Auditorium der Uni gesprochen hat.
Da waren wir im gleichen Saal!
Und es gab unglaublich viel und früh DVDs und Mitschnitte von Vorträgen auf Youtube. Juul hat richtig mit der Gießkanne seinen Paradigmenwechsel in der Familientherapie und in der Erziehung verteilt. Und gerade diese Videos oder ihn life zu erleben, das hat mich total fasziniert. Erinnerst du dich an der Uni in Hamburg, als er den Dialog hatte mit einer Mutter? Das hat mich sehr berührt, weil es auch eine Patchworkmutter war. Sie hat sich darüber aufgeregt, dass der Teenie-Sohn morgens oder abends immer das Handtuch auf dem Boden hat liegen lassen. Juul hat ihr inhaltlich schnell auf die Spur geholfen und es wurde klar, dass sie das Problem eigentlich nicht mit ihrem Sohn, sondern auch mit ihrem Mann hat. Ich fand es spannend, erleben zu dürfen, wie schnell er mit zwei, drei Rückfragen die Beziehungsfäden sichtbar gemacht hat.
Damals war ich noch weit weg davon zu erkennen, dass es eben zwar gleiche Probleme gibt, aber die Lösung für jede Familie sehr unterschiedlich ist. Ich habe aber erfasst, dass er mit diesen Rückfragen klärt, wo dieser Mensch gerade steht, was verletzt ihn, wo fühlt er sich nicht wertgeschätzt. Das war zu spüren: der wichtigere Teil ist der, wie jemand redet und nicht was. Warum wird die Stimme jetzt wackelig, wann steigt das Wasser in den Augen?
Hat der Paradigmenwechsel dann auch bei euch zu Hause stattgefunden?
Ja, schleichend. Ich hätte mir gewünscht: bitte, sofort, jetzt! Aber das ist ein lebenslanger Prozess. Natürlich erwischt man sich immer wieder selbst dabei, dass man gerade nicht gut spürt, wer man eigentlich ist, und dann die Schwierigkeiten auftauchen im Familienleben oder im Berufsleben. Die Juulschen Ideen umzusetzen, bedeutete auch ein Ringen in der Partnerschaft. Es ist ja einfacher, die Fehler des anderen zu sehen, als die eigenen. Mit ein oder zwei Meter Abstand kann man leicht mahnen: „Aber wir haben doch gesagt, wir machen das jetzt so!’“
Hast du den ganzen Stapel Juul-Bücher von deinem Nachttisch genommen und auf den von deinem Mann gepflanzt?
Ja, natürlich. Immer wieder. Auch in wechselnder Reihenfolge, damit er merkt, dass sich was verändert hat. Dort sind sie aber eingestaubt.
Er hatte keine Lust, das zu lesen?
Nein. Ihm das alles haarklein zu erzählen, hat auch nicht gut geklappt. Er war mit mir in Hamburg im Uni-Auditorium und bei anderen Vorträgen später, und wenn ich spät abends Videos angeguckt habe, hat er sich oft dazu gesetzt und mitgeschaut. Zwischendrin war er auch mal sehr genervt davon, wenn er von mir immer hörte „Juul sagt dies oder Juul sagt jenes …“. Ich durfte mir mehr als einmal anhören: „Wenn ich mit Juul reden möchte, dann kontaktiere ich ihn, aber jetzt würde ich gerne mit meiner Frau sprechen.“
Die Leute, die zu dir in die Beratung kommen, wollen auch Juul haben?
Sehr häufig. Aber es landen auch Leute bei mir, die keine Ahnung haben, wer Jesper Juul ist. Das sind dann oft Empfehlungen von Familien, die schon bei mir waren. Die sagen: „Mach das doch auch mal. Uns hat es gut getan.“ Die, die von alleine kommen, sind oft Frauen, die viel Juul gelesen haben und sich bewusst auf die Suche machen nach jemanden, der diese Form von Beratung in Hamburg anbietet. Das ist für viele ein erster Qualitäts-Check, um nicht aus Versehen eine Beratung á la Michael Winterhoff* einzukaufen. (* Kinder- und Jugendpsychiater, Autor, der sich in seinen Ansätzen deutlich von Jesper Juul unterscheidet.)

 

Wie läuft eine Beratung bei dir ab?
Zunächst gibt es ein Erstgespräch, in dem wir uns kennen lernen und ich die Familien ermutige, möglichst komplett zu kommen, was oft selbst für „Juulianer“ ein ungewöhnlicher Schritt ist. Auch wenn die Eltern schon einiges von Juul gelesen haben, herrscht doch das Denken vor, wir müssten erst einmal das Problem erklären, das das Kind hat. Und danach erst können wir das Kind mitbringen. Manchmal haben die Leute auch Angst, das Kind zu jemanden mitzubringen. Das kann ich gut verstehen. Im Telefongespräch versuche ich, mich so gut als möglich zu zeigen. Wenn die Eltern mich „spüren können“, können sie mir eher vertrauen und gleich beim ersten Mal alle gemeinsam kommen.
Beim allerersten Kontakt per E-Mail oder Telefon möchte ich auch gar nicht so genau wissen, was das Problem ist. Gerade wenn die Kinder schon ein bisschen älter sind, entsteht bei ihnen sonst das Gefühl, dass ich schon im Boot der Mutter oder des Vaters sitze. Mir hilft es bei meiner Arbeit, wenn alle dabei sind und ich von jedem hören kann, wie er diesen Konflikt empfindet. Da sind wir beim nächsten Wert von Juul: Gleichwürdigkeit. Jugendliche fühlen sich nicht gleichwürdig behandelt, wenn ihre Eltern schon drei Sitzungen vorher bei mir waren, um z.B. über die Schulprobleme des jungen Herrn zu sprechen. Und wenn wir dann fertig sind mit unserer Problemfindung, darf er dann kommen und Stellung beziehen …
So nach dem Motto: „Dann gucken wir uns den Delinquenten mal an.“
Genau. Das wäre nicht gleichwürdig.
Sag mal konkret: Wie viele Leute hattest du schon bei dir sitzen?
Meine größte Familie hat sieben Kinder. Eine Patchworkfamilie.
Da hattest du neun Leute sitzen?
Ja. Das war kuschelig.
Und hat das funktioniert?
Ja. Ich empfinde das als unglaublich hilfreich, wenn die Kinder dabei sind. Es geht ja viel mehr um den Prozess als um den Inhalt. Wie spricht die Familie miteinander? Wie gehen sie miteinander um? Wie hören sie sich zu? Mein Job ist es, wenn der Prozess nicht zum Inhalt passt, sie darauf aufmerksam zu machen. Indem ich zum Beispiel sage: „Ich habe dich jetzt so verstanden: Meinst du das? Ich habe das Gefühl, da ist noch etwas anderes.“ Sie zu einer authentischen Aussage zu ermutigen, ist genau meine Arbeit. Und das ist viel einfacher, wenn ich die ganze Familie da sitzen habe. Das können sehr einfache Aussagen sein, zum Beispiel, dass ein Kind aus der Spielecke sagt: „Stimmt ja überhaupt nicht!“ Oder es ist zu spüren, da sitzt eine Mutter, die Angst hat zu sagen, was sie wirklich denkt. Wenn dann die Kinder miterleben, wie es in einer Atmosphäre echter Wertschätzung zu einer Selbstoffenbarung kommt, ist das für sie unglaublich wertvoll. Das verändert die Familie von jetzt auf gleich. In solchen Momenten wird es still.
Praktisch heißt das, bei der neunköpfigen Familie zum Beispiel sitzen nicht alle starr im Kreis, sondern einer sitzt in der Spielecke …?
Ja, aber das kommt natürlich darauf an, wie alt die Kinder sind. Bei der großen Familie waren die Kinder so alt, dass alle auf Stühlen saßen. Wenn kleinere Kinder mitkommen, sind sie gerne in der Spielecke.
Und gerade die Kleinen reagieren bei den Beratungen sehr stark auf den Prozess. Alle Eltern wissen zum Beispiel, was passiert, wenn eine Mutter noch nicht bereit ist, ihr Kind in der Kita abzugeben. Die Mutter kann lang und breit erzählen, dass es da bestimmt total schön ist und das Kind sicher wahnsinnig viel Spaß haben wird. Man redet sich das dann als Mutter selber schön, aber wenn ich eigentlich  noch gar nicht so weit bin, dann passiert folgendes: das Kind will nicht in der Kita bleiben. Es reagiert nicht auf den Inhalt, meine Worte, sondern auf meine darunter liegenden Gefühle. Kleine Kinder sind darauf angewiesen, über Tausende von Antennen zu erspüren: Wer ist meine Mama? Wer ist mein Papa?Wie kann ich in dieser Familie gut sein? Deshalb sind die Kinder für mich eine unglaubliche Hilfestellung. Sind sie sehr ruhig oder machen sie viel Theater während der Beratung? Sie sind für mich wie ein Seismograph. Selbst wenn ich in der Elternschule berate, wo die Kinder die Möglichkeit haben, aus dem Raum zu gehen und ins Bällebad im Nachbarraum abzutauchen, reagieren sie auf unser Gespräch. In dem Moment, wo wir an den entscheidenden Punkt gelangen, sind sie immer da.
Das ist berührend, oder?
Ja, absolut. Und jedes Kind reagiert – je nach Temperament – auch ganz anders. Manche machen ganz viel Theater, wenn die Eltern sich streiten. Die haben schon entdeckt, wie sie ablenken können von dem Streit. Andere sind besonders brav und klettern auf Mamas Schoß, wenn sie merken, dass ihre Mutter den Tränen nahe ist. In dem Moment, wo jemand eine Aussage trifft, in der das ganze Gefühle drinsteckt, gehen bei allen die Ohren auf. Dann hören die Kinder auf, Theater zu machen. Das sind so Gänsehaut-Momente. Ab da hat man dann die Möglichkeit, es anders zu machen, wenn man erkennt: Ich mache das, weil … und ich merke auch, was das mit den anderen in der Familie macht.
Wenn zum Beispiel die selbst aufopfernde, besorgte Mutter merkt, dass ihre Art für die Teenie-Tochter übergriffig ist und ihr die Luft zu leben nimmt. In dem Moment, wo die Teenie-Tochter spürt, sie macht das nicht, weil sie mich kontrollieren möchte oder weil sie mich für zu unreif hält, sondern weil sie Angst hat. Von da an kann die Tochter mehr für ihr Recht einstehen, ihre Mutter gleichzeitig in den Arm nehmen und sagen: „Mama, mach dir keine Sorgen. Alles gut!“ Und die Mama kann sehen: Es war lieb von mir gemeint, kam aber nicht so an.
Wann rätst du zu einer Familien-Beratung?
Ich empfehle, lieber früh zur Beratung zu gehen, als später eine Familien-Therapie zu brauchen, also sich Beratung zu holen, wenn sich Konflikte wiederholen und destruktiv sind. Das geht oft los, wenn Paare Eltern werden und man sich das erste Mal  fragt: „Was macht der denn jetzt mit meinem Kind?“ „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ – „Der muss doch merken, dass …“! Eigentlich würde ich mir wünschen, dass die Leute schon bei so kleinen Wickeltisch-Diskussionen („Macht es doch so, dann weint er nicht!“) die Möglichkeit nutzen. Und dann geht es auch noch wirklich schnell, dass man wieder zueinander findet.
Es gibt Familien, die kommen sehr regelmäßig, weil sie wissen, das ist so ein Ort, wo wir uns anders begegnen. Grundsätzlich geht es immer darum, sich so zuzuhören, dass man versteht, da liegt etwas unter dem Gesagten. Zum Beispiel: „Ich mache mir Sorgen darüber, dass du unser Kind mit anderen Werten erziehst und eine andere Vorstellung von Erziehung hast.“ Und diese Vorstellung, woher sie rührt und was damit verbunden ist, von einander zu erfahren, das gelingt schon auch in zwei oder drei Beratungen. Dann kann man eine Idee davon mit nach Hause nehmen, „wie“ man miteinander reden muss, um wirklich etwas voneinander zu erfahren.
Unsere Therapieform heißt ja auch erlebnisorientierte Familienberatung und -therapie, das heißt, ich erlebe das an dem Beispiel, mit dem ich da gerade sitze und viele können das viel besser mitnehmen, als ein Beispiel aus einem Buch.
Kannst du ein Beispiel dafür nennen, was in einem Gespräch unter den Worten liegen kann?
Ja, dies hier ist aus dem Hause Hillmer: Mein Mann und ich hatten jahrelang Diskussionen über meinen „Bio-Wahn“, wie er meine Einkaufsgewohnheiten häufig nannte. Mir war das so wichtig und ich habe ihm eine Doku nach der anderen gezeigt, Artikel hingelegt und das neue Greenpeace-Heft auf seinem Nachttisch platziert in der Hoffnung, ihn zu überzeugen. Und jedes Mal wenn er einkaufen war, hat er irgendwas mitgebracht, bei dem ich die Hände über den Kopf zusammengeschlagen habe! „Wie kann man seinen Kindern Tortellini verfüttern wollen, die mit Fleisch gefüllt sind, deren Herkunft unklar ist?“ Wir begegneten uns immer auf der Inhaltsebene. Und ich war wahnsinnig verletzt, wenn er gesagt hat „Jetzt ist mal gut. Wir werden daran nicht sterben.“ Irgendwann aber haben wir es geschafft, uns darüber zu unterhalten, was darunter lag, und er hat gesagt: „Ich mache mir echt Sorgen um unsere Finanzen!“ Ab da konnte ich ihm zuhören: „Ach so, darum geht es! Du machst dir Sorgen und willst lieber eine Rentenversicherung abschließen, als unser teures Bioleben zu finanzieren.“ Das war das Thema und nicht: „Ist der Apfel aus dem konventionellen Anbau wirklich ungesünder als der Bioapfel? Dann konnten wir uns hinsetzen und schauen: „Was ist für dich wichtig und, was ist für mich wichtig?“

*

Liebe Claudia, vielen Dank für die Einblicke ins Familienleben der Hillmer  Ich freue mich schon auf den dritten und letzten Teil des Interviews, in dem es darum geht, warum Schuldgefühle wenig hilfreich sind und wie du hellhörig wirst, wenn Eltern sagen: „Dieses Kind ist einfach schwierig.“
Immer fröhlich Windeln und Paradigmen wechseln,
eure Uta
PS: Hier ist Claudias Website mit allen Infos zu ihrer Beratung.

Beitragsbild von cottonbro und Titelbild von Andrea Piacquadio, beide von Pexels.

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Uta


Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

Deine, Uta

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