Von der Überverantwortlichkeit 

 29/10/2013

Was für ein Morgen! Prinzessin (12) und ihr Vater kollidieren im Badezimmer, weil die eine zur Schule, der andere früh zum Flughafen muss. Das Taxi, das ich für den Flughafen-Transfer bestellt habe, kommt und kommt nicht. Der Kater übergibt sich ins Wohnzimmer. Der Kronprinz hat sieben Minuten vor Schulbeginn noch nicht sein Zimmer verlassen. Mein Mann sucht eine Wintermütze, die noch in den Koffer soll. Ohne Frühstück springt der Kronprinz auf sein kaputtes Fahrrad und saust die Einfahrt hinunter, wo endlich das Taxi hält. Der Fahrer entschuldigt sich. Seine Mutter fliege heute nach Indien zurück und sie fände ihren Reisepass nicht wieder. Ein Kuss. Die Autotüren knallen. Ich winke. Vor dem Haus treiben Blätter und abgebrochene Äste. Nach diesem hektischen Morgen fühle ich mich zerzaust wie der Garten nach dem Sturm gestern.

Wie froh bin ich, dass ich zu Hause arbeiten und mir erst einmal einen Tee kochen kann. Ich genieße jeden Schluck, als könnte ich Ruhe trinken, schiebe die Zeitung beiseite und lese Juul:

„Wenn man in den ersten fünf, zehn oder dreizehn Lebensjahren seine eigene Persönlichkeit zugunsten der Wünsche und Bedürfnisse seiner Eltern unterdrückt hat, dann wird die Überverantwortlichkeit ein Teil der eigenen Identität, weil man keine andere Möglichkeit kennengelernt hat, für andere Menschen wertvoll zu sein.“ (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Reinbek bei Hamburg 2009, Seite 194, 195)

Juul meint mit „Überverantwortlichkeit“ den Drang, es allen Recht zu machen, sich schuldig sich fühlen, wenn etwas mal nicht funktioniert, ständig ein „sorry“ auf der Zunge rumliegen zu haben, im Dauerstress zu sein, weil überall Möglichkeiten lauern, etwas falsch zu machen.

Dafür können wir unseren Eltern keine Schuld geben. Kriegskinder oder -kindeskinder waren es. Erst Überlebenskampf, dann Wiederaufbau. „Persönlichkeit des Kindes“, „gesundes Selbstgefühl“, „Integrität wahren“? Keine Begriffe, die damals en vogue waren.

Erst in den siebziger Jahren setzte eine breite Psychologisierung* unserer Gesellschaft ein und die Menschen begannen, nicht mehr nur Erlittenes im Kessel von Stalingrad als Trauma zu behandeln, sondern auch Erlebnisse in einer durchschnittlichen Kindheit.

Das mit dem Psychologisieren ist mir meistens zu viel. Nicht hinter jeder Ecke lauert ein Trauma.

Aber ich möchte, dass Kinder nicht mehr diese „Überverantwortlichkeit“ entwickeln und mit jedem Jahr, das sie älter werden, glauben, mit ihnen sei irgendetwas falsch.

Ich möchte, dass Eltern an sich arbeiten, wenn es zu Hause nicht läuft, statt die Kinder in die Therapie zu schicken.

Ich lasse ab von meiner eigenen „Überverantwortlichkeit“ und packe sie fröhlich mit all dem Laub und den abgebrochenen Ästen in die Tonne

Uta

* nach Ursula Nuber: Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss der Kindheit. Frankfurt am Main 1999, Seite 24

Das Titelbild ist von Olga Mironova und das Beitragsbild von Nubia, beide von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    in unserer ach so perfekten Gesellschaft, in der alle aktiv, jung, schön, schlank und wahnsinnig erfolgreich sein sollen, ist es mittlerweile schon sehr schwer, sich nicht ungenügend zu fühlen und ständig ein „Sorry“ auf den Lippen zu haben. Es wird einem doch überall suggeriert, dass irgendwas nicht mit einem stimmen kann, wenn es mal nicht rund läuft und perfekt ist. Auch und gerade oft hier in der Bloggerlandschaft. Erwachsene, an denen das dann nicht abperlt, lassen ihren Frust dann wiederum nur zu oft an ihren Kindern aus. Deswegen finde ich Deinen Satz sehr schön, dass die Eltern erst einmal an sich arbeiten sollen, bevor sie ihren Kindern das Gefühl geben, mit ihnen sei etwas verkehrt. Ein sehr schöner Post!

    Liebe Grüße
    Birgit

  • Liebe Uta, ich kann mich Birgit nur anschließen. Ich war als Kind sehr unsicher und schüchtern, habe viel zu viel gegrübelt und bin mit Erwachsenenproblemen vollgemüllt worden. Bei meinen Kindern mache ich anscheinend sehr viel richtig, denn sie strotzen nur so vor Lebenslust und Selbstbewusstsein. Ich wünsche Dir einen ganz wunderschönen Abend, danke für Deinen tollen Post! Rieke

  • Liebe Uta,

    puh, diesen Post habe ich bereits mehrmals gelesen. Er hängt mir irgendwie nach. So, wie ein Buch, von dem ich wünschte, es würde nie enden. Ein Film ohne Happy End.
    Ich lege meine Überverantwortlichkeit in einigen Bereichen so langsam ab (wird ja auch Zeit mit über 40, oder?), kann mich aber von einigen Dingen doch nicht ganz frei machen. Gerade in meiner Mutterrolle.
    Und nun frage ich mich, ob ich mit den Herzbuben denn so viel wie möglich „richtig“ mache oder doch etwas verbocke, was ungewollte Spuren hinterlässt.Ohne, dass ich es jetzt merke.
    Wie weit dürfen die eigenen Bedürfnisse und Wünsche gehen bzw. inwieweit darf man sich seinen Bedürfnissen widmen? Ohne, dass die Herzbuben das Gefühl bekommen, dass sie der Grund sind? Oder, dass sie es nicht Wert sind, dass ich ihnen Zeit und Fröhlichkeit widme.
    Sehr schön finde ich übrigens „als könnte ich Ruhe trinken“ – ich weiß genau, wie sich das anfühlt, ganz toll formuliert.

    Grübelnde Grüße,
    Frieda

  • Puh…. so oft landen Bereitschaftspflegekinder hier, die genau dieses Problem haben. Und es ist wirklich schwierig, sie davon zu überzeugen, dass sie ganz in Ruhe Kinder sein dürfen. Dass es bei uns nicht lebensgefährlich ist, Fehler zu machen (leider gibt es auch Kinder, die für „Fehler“ schlimm verprügelt worden sind oder andere schlimme Strafen bekamen). Dass sie nichts dafür können, wenn Erwachsene mal schlecht drauf sind – was ja durchaus mal passiert.
    Miss U. z.B. brachte sich fast um, um uns ständig mit irgendwelchen kleinen Geschenken wohlwollend zu stimmen – dabei waren wir das ja schon. Das hat sie erst nach einer ganzen Weile begriffen.

    Liebe „ganz normale“ Eltern – bleibt ruhig. Unsere Pflegkinder kommen in der Regel aus Familien, in denen mindestens ein erwachsenes Mitglied psychisch erkrankt ist und/oder suchtkrank ist. Da ist dieses Gefühl des „ich-bin-für-alles-verantworlich“ bei den Kindern sehr, sehr ausgeprägt. Wenn ihr nicht den ganzen Tag benebelt irgendwo herumhängt, eure Kinder für alles und jedes ausschimpft oder wegsperrt oder verhaut, täglich eure Socken waschen lasst weil ihr es selber nicht geregelt kriegt oder sie bereits mit 4 Jahren alleine einkaufen schickt, sondern sie in den Arm nehmt, sie lobt wenn sie etwas gut machen und sie unterstützt bei dem, was sie noch nicht so gut können, wenn ihr Anteil an ihren Sorgen, Fragen und Ideen nehmt – dann läuft sie Sache. Ihr müsst sie nicht 24 Stunden täglich von allem Übel und aller Verantwortung fernhalten. Die können ganz schön was ab.

    Was ich aber so gar nicht leiden kann, sind z.B. Sätze wie „Mein Sohn/meine Tochter hat MIR eine Eins in Französisch nach Hause gebracht“ Da krieg ich Pickel. Weil mit so einem Satz nämlich sehr wohl dem Kind suggeriert wird, dass es – in diesem Fall mit guten schulischen Leistungen – zu meinem persönlichen Wohlbefinden beiträgt.

    Oder bei Streit (gerne ja mal mit Pubertistenkindern) Dinge wie „Von deinem ständigen schlechten Benehmen krieg ich Kopfweh!“

    Da muss man schon ein bisschen aufpassen, finde ich. (Selbst wenn es so sein sollte, dass einem beim Anblick eines Pubertistenzimmers der Brechreiz ins Gesicht geschrieben steht…)

    Verantwortungsbefreite (da gerade Mittagspause) Grüße vom
    LandEi

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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