Glückliche Familie Nr. 55: Gefallsucht 

 18/06/2012

Der gute Tom Hodgkinson nennt in seinem Buch über entspannte Elternschaft (The idle parent) zwei wichtige Grundsätze.

Der erste Grundsatz lautet:

Du kannst besser am Anfang streng zu den Kindern sein und spaeter locker als umgekehrt. 

Diese Regel kommt irgendwie zu spät für mich. Oder soll ich jetzt noch lockerer werden. Ich probiere es mal.

(Jetzt kommentieren die Großeltern wahrscheinlich: „Nein, nein, es reicht schon mit deiner Lockerheit!“ und drücken den Zeigefinger eine halbe Stunde auf das Ausrufezeichen.)

Der zweite Grundsatz lautet:

Lobe deine Kinder in der Oeffentlichkeit und kritisiere sie zu Hause. 

In diesem Punkt muss ich mir wenig vorwerfen. Ich bin als Mutter sowieso nicht der Typ „Schimpfdrossel“ und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Wenn ich erlebe, dass andere Eltern ihr Kind vor anderen Leuten zur Schnecke machen, wünsche ich immer, der Boden tue sich auf und das Kind und ich könnten zusammen in diesem Erdloch verschwinden. Grasdeckel zu, Mama endlich still. 


Dass Eltern ihr Kind öffentlich herunterputzen, erlebe ich immer wieder. Meistens sind es Nichtigkeiten: Der verlorene Sportschuh, die nicht getragene Zahnspange, das kaputte Fahrrad, die nicht gemachten Hausaufgaben, das vergessene Dankeschön für ein Geschenk oder eine Einladung.


Tom Hodgkinson beruft sich in diesem Punkt auf John Locke, den Vordenker der Aufklärung:

„Locke bemerkt, dass Eltern ihre Kinder in der Öffentlichkeit zurechtweisen, um vor anderen als standhaft und streng zu erscheinen. Ich mache es selber so: Ich schimpfe mit ihnen vor anderen, so dass ich als ‚guter‘ Vater dastehe. Aber das demütigt das Kind. Es ist besser, sie vor anderen zu loben.“ („The idle parent“, Seite 35)

Neulich war ich auch in einer Situation, in der ich aus Gefallsucht ganz anders gehandelt habe, als ich es für mich allein in Ruhe getan hätte.

Kronprinz (14) hatte Klassenfest am Elbstrand. Er war schon vorgefahren und ich kam mit Prinzessin (11) und dem Couscous-Salat hinterher. Kaum hatte ich meine Schüssel auf den Tapeziertisch neben die Grillwürstchen gestellt, stand mein Sohn vor mir. „Darf ich ein Bier trinken?“ – „Bier?“ Ein halbes Dutzend Eltern stand um Grill und Salatbüfett, genüsslich wartend, wie ich reagieren würde.
„Mit Alkohol?“ – „Ja, was denkst du, ein Malzbier?“ – „Jetzt werde mal nicht frech!“ Zum Glück hatte ich noch das Salatbesteck in der Hand. Wenn meine Autorität schon baden ging, musste ich wenigstens das Besteck hoch halten.
„Dürfen die anderen das denn auch?“ (Toller Satz, wo ich sonst immer sage, dass es uns einen feuchten Kehricht interessiert, was andere tun.) „Ja, die meisten.“ Und die Lehrerin hätte gesagt, sie würde die Entscheidung den Eltern überlassen. Die Lehrerin guckte angestrengt in die Grillkohle. Stille über den Nudelsalaten und den Mozzarella-Tomaten.
Ich spürte eine starke Transpiration in den Achselhöhlen und ließ die Hand mit dem Salatbesteck lieber sinken. In meinem inneren Stress griff ich auf eine moderne Version von „Warte, bis der Papa nach Hause kommt“ zurück. Ich sagte: „Hier hast du mein Handy und frage deinen Vater, was er davon hält.“ (Ohne Publikum hätte ich nie so theatralisch gesagt „deinen Vater“).
Gesagt, getan.
„Er hat es erlaubt,“ rief Kronprinz, warf mir mein Handy zu und verschwand mit seinen Mitschülern im Gebüsch.
„Wer hat denn diese leckere Zucchini-Quiche gemacht?“ fragte ich heiter und zählte fieberhaft nach, wie viele Eltern in der Klasse wissen, dass ich eine Elterntrainer-Ausbildung habe.

In einem Elternkurs hätte ich geraten, den Sohn kurz beiseite zu nehmen, sich zusammen in den Sand zu setzen und ungestört mit ihm zu sprechen. Ich hätte empfohlen, es zu erlauben. Schließlich sei es doch viel besser, sie probieren Alkohol, wenn wir dabei sind, als wenn sie es heimlich tun.

Die Realität sah leider anders aus, verlief im Ergebnis aber glimpflich: Kronprinz schmeckte das Bier überhaupt nicht, trank nur ein wenig mit Limo verdünnt und das Thema ist – fürs erste – erledigt.

Das Beispiel hinkt, weil ich Kronprinz nicht wirklich gedemütigt habe. Aber diese Situation erinnert mich daran, wie schwer es sein kann, besonnen zu handeln, wenn andere Mütter und Väter dabei sind.

Ich habe ein weiteres Beispiel:

Ich holte Prinzessin (11) nach einer Übernachtung bei ihrer Freundin ab. Mein Fahrrad parkte ich genau vor dem Eingang des Reihenhauses. Prinzessin stopfte den Schlafsack auf ihren Gepäckträger. Jetzt musste ich nur noch mein fest montiertes Ringschloss am Hinterrad wieder öffnen, fand aber den kleinen Schlüssel nicht. Während die gesamte Familie der Freundin nach dem Motto „Lass doch mal das Kind vor“ in der Haustür stand und zusah, wie ich meinen eigenen Körper einer Leibesvisitation unterzog, verdrehte Prinzessin die Augen. Anstatt Vorgarten und Rinnstein abzusuchen, machte sie Bemerkungen, die zum Ausdruck brachten, dass sie die dümmste Mutter des Universums hätte.
Ja, ich kochte innerlich, guckte streng, aber sagte nichts. Endlich fand sich der kleine Schlüssel in irgendeiner Taschenfalte und wir machten uns auf den Nachhauseweg.

Kaum waren wir aber um die Ecke gebogen, brachte ich Prinzessin mit quietschenden Hollandreifen zum Stehen. „Nie wieder“, sagte ich, „nie wieder machst du solche Bemerkungen, wenn andere Leute dabei sind. Wenn ich dich vor deinen Freundinnen so behandeln würde, wärest du auch sauer, oder?“

Danach waren wir wieder miteinander im Reinen und ich war froh, dass ich sie nicht vor der anderen Familie heruntergeputzt habe.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta auf dem Weg zur Jean-d’Arc der Kinderwürde

  • Schöner Artikel – wie immer.
    Da mein großes Kind manchmal etwas „unkonventionell“ ist, bespreche ich auch immer v o r einer Klassenveranstaltung o.ä. unter 4 Augen, was ich mir so gar nicht wünsche. Meistens klappt das auch.
    Beim letzten Familienwandertag war das große Kind dann plötzlich beim Aufbruch verschwunden. Ich rief mehrmals lautstark durch den Wald – keine Antwort. Die meisten Eltern schauten schon genervt oder schadenfroh und machten sich dann auf zum Parkplatz. Ich blieb noch eine Weile im Wald und schickte den Mann vor, um mir per Handy mitzuteilen, wenn er das große Kind findet. Natürlich stand er dann lächelnd und unschuldsvoll bereits am Ziel – er hätte das so verstanden, dass wir uns da alle wieder treffen.
    Ich glaube die anderen Eltern haben geradezu erwartet, dass wir den großen Showdown veranstalten, aber ich hab kein Wort gesagt und an meinen Wutkloß gewürgt. Das Donnerwetter folgte dann im Auto. Seither sind mir Familienwandertage ein Greul 😉

  • Ich hätte im einen wie im anderen fall anders gehandelt muss ich sagen, finde aber deine Reaktion auch durchaus angemessen. Bier trinken hätte ich mir Verweis auf das Alter kurz untersagt und das

  • Liebe Uta,
    zwei schöne Regeln sind das. Vor allem im Supermarkt und in Einkaufsstraßen/-zentren/ etc wimmelt es nur so von Eltern, die ihre Kinder wegen den kleinsten Kleinigkeiten lautstark ausschimpfen, und bei den Kindern sehe ich als Reaktion meist eine verständnislose Traurigkeit und wütende Scham – wem ist denn damit geholfen?
    Und wie bei den meisten Situationen und Regeln über die du schreibst, finde ich auch hier, dass es sich wunderbar auch auf den Umgang unter Erwachsenen anwenden lässt.
    Liebe Grüße, Remy

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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