Kinder zur Höflichkeit erziehen? 

 10/07/2014

Als die Fußball-Weltermeisterschaft begann, hat Kronprinz (16) mit ein paar Freunden ein Deutschland-Spiel bei uns im Wohnzimmer angesehen und zwischendurch auf der Terrasse gegrillt. „Wir gehen dann mal“, rief ich meinem Sohn zu, denn Soßenkönig und ich waren in der Nachbarschaft eingeladen. „Also, dann tschüss.“ Ich reckte mich ein wenig, um zu sehen, wer sich draußen eingefunden hatte. „Wir sind jetzt also wirklich weg.“ Ich grüßte wie Queen Mum bei Paraden und drehte mich zur Haustür, als zwei der Jungs schnell ins Wohnzimmer liefen. Sie begrüßten uns, bedankten sich für die Einladung und wünschten uns einen schönen Abend. Das klingt nach einstudierter Höflichkeit, aber die beiden traten selbstbewusst auf, waren locker und ungezwungen.

Ich bin ja nicht für Dressur-Nummern, aber das war einfach schön. Der Soßenkönig empfand es auch so.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sagten wir dem Kronprinzen, dass wir uns sehr über diese Geste von Jasper und Paul gefreut hätten und wagten zu fragen, ob sich der eigene Nachwuchs bei anderen Leuten auch so verhalte.

Unverständliches Grummeln über den Brötchen.

Wir wurden kühn und legten noch nach. „Wir fänden es schön, wenn ihr das bei anderen Leuten auch machtet, also hallo sagen und sich kurz vorstellen.“

Nachher dachte ich darüber nach, ob es nicht zu weit ging, das zu sagen. Wünsche ich mir nicht, dass meine Kinder aus sich heraus herzlich sind? Will ich, dass sie es tun, weil ihre Eltern es erwarten oder sie einer Konvention folgen? Sollten sie nicht authentisch sein?

Der größte Verfechter von Authentizität ist Jesper Juul. In dem Büchlein „Wir sind für dich da. 10 Tipps für authentische Eltern“ ist ein Kapitel überschrieben „Authentisch statt höflich sein“. Wenn Juul mal Familien auf der Straße trifft, die er kennt, und diese bringen ihre Kinder dazu, ihm die Hand zu geben, ist ihm das unangenehm. Ihm genüge der Blickkontakt zum Kind und darin könne er lesen, ob das Kind sich freue, ihn zu sehen oder nicht. Ihn südlichen Ländern würden die Eltern ihre Kinder sogar dazu nötigen, ihn zu küssen. Dann würde er sagen, dass er das nicht wolle.
(Mich wollen in südlichen Ländern auch immer alle küssen. Ich kenne das Problem.)

Das Eintreten für Authentizität durchzieht sämtliche Bücher von Juul. Wir Eltern sollen das Rollenspiel sein lassen, nicht tun und sagen, was andere erwarten, uns persönlich ausdrücken, keine floskelhafte Höflichkeit, sondern uns und unseren Kindern erlauben, zu zeigen, wer wir wirklich sind.

Das klingt gut und ich halte das auch für sehr wichtig.

Aber wenn ich zum Grillen und Fußballgucken eingeladen bin, sage ich nur dann „hallo“ und „danke“, wenn mir in jeder Faser meines Herzens danach ist?

Man kann das mit der Authentizität übertreiben. Es gibt Leute, die sind so authentisch, dass sie schwer für andere und sich selbst zu ertragen sind.

Was ist denn authentisch? Immer das, was ich gerade fühle? Dann sind die Gefühle der Chef und steuern mich.

Gefühle sind wichtige Signale, aber sie dürfen uns nicht komplett in der Gewalt haben.

Bei Juul fehlt mir ein Aspekt und jetzt kommt eine wirkliche Sensation: Dass ich etwas tun kann, wonach mir eigentlich nicht ist, und dass die Tat mich und meine Gefühle verändert.

Ich kann mir angewöhnen, häufiger anzuerkennen, was andere Menschen für mich tun, und die Resonanz darauf gibt auch mir ein besseres Gefühl. Wir heben uns damit gemeinsam auf ein anderes Atmosphäre-Level. Wenn meine Kinder das lernen, wird ihr Leben einfach besser funktionieren.

Und was will uns die Erziehungsberaterin damit sagen?

  • Dankbarkeit als Haltung leben und mit Jugendlichen darüber reden. Damit sie nicht auf die Idee kommen, die Welt sei darauf ausgerichtet, sie glücklich zu machen. Damit sie selber einen Beitrag leisten in der Welt und die Beiträge anderer anerkennen.
  • Mich auch bei meinem Kind bedanken und nicht alles selbstverständlich nehmen. So wie ich nur mitfühlend werden kann, wenn ich Mitgefühl für mich selber erlebt habe, kann ich auch nur dankbar werden, wenn ich die Freude dankbarer Anerkennung am eigenen Leib erfahren habe.
  • Als Erwachsene respektvoll miteinander umgehen. Dann können Kinder auf lange Sicht gar nicht anders, als es zu übernehmen.
  • Bei Geschenken für kleinere Kinder kann man ruhig mal sagen  „Wie heißt das Zauberwort?“ oder „Was sagt man?“ Das tun Erwachsene gefühlt seit dem Kaiserreich. Aber bitte nicht zu verbissen und Kinder nicht nötigen, das erlösende Wort zu sagen.
  • Allerdings finde ich es in Ordnung zu erinnern: „Wolltest du dich nicht noch bei Tim für das Geschenk bedanken?“, aber locker bleiben. Einüben, ja, zwingen, nein.
  • Wenn vom Kind kein „danke“ oder keine Begrüßung kommt, kann man einfach lachen und sagen: „Dann bedanke ich mich mal im Namen meiner Tochter“ oder „Dann sage ich mal für uns alle ‚hallo’“. Aus dem Thema Umgangsformen keinen Kampf machen, aber ruhig vormachen, wie es geht.
  • Ein „Hallo“ oder „Guten Tag, ich bin der Franz“ ist mitteleuropäischer Standard und zu beherrschen wie Zähneputzen. Aber ob ein Kind Oma küssen möchte oder Onkel Frank umarmen möchte, sollte es selbst entscheiden dürfen.

Immer fröhlich und ohne Zwang die mitteleuropäischen Standards vorleben

Eure Uta

Titelbild von Jeremy McKnight von Unsplash und Beitragsbild von Marcus Wöchel von Pexels. 

  • Also ich finde ein Grundmaß an Höflichkeit wichtig, denn auch wenn ich jemanden nicht leiden kann, bricht mir kein Zacken aus der Krone zu grüßen, wenn ich der Person begegne- ich muss sie ja nicht in den Arm nehmen oder küsschen geben, aber Hallo sagen gehört sich einfach.
    Ich versuche das auch meinen Kindern beizubringen: Hallo sagen sollen sie, Hand geben oder Küsschen müssen sie nicht.

    Aber irgendwie kommt es mir so vor, als wäre es schon normal geworden auch flüchtig Bekannte zu umarmen oder Küsschen auf die Wange zu geben- ich mache das nur bei Leuten, die ich mag und die mir wichtig sind…

    Und Bitte und Danke gehört für mich ganz selbstverständlich dazu und ich hoffe, dass ich das meinen Kindern auch beibringe.
    Auf jeden Fall war es wunderbar als am Nachmittag die Kinder draußen spielten und eine Mutter die Kinder mit reinnahm und Süßes verteilte und meine Große die einzigste war, die danke gesagt hatte- man war ich da stolz ^^

    ALso zusammengefasst: es kommt einfach auf die Situation und die Leute drauf an, aber eine Grundmenge an Höflichkeit erwarte ich schon.

    • Liebe Roxanne, ich finde auch, dass es inflationär geworden ist mit den Umarmungen und Küsschen. Schwierig finde ich es jedoch, in einer Runde von Freundinnen und Bekannten die eine zu umarmen und der anderen nur die Hand zu geben. Dann umarme ich lieber alle. Herzliche Grüße und danke, dass du geschrieben hast. Uta

  • Hallo Uta,
    Ich danke Dir für Deine tollen Tipps im Umgang mit Kindern. Ich lese gerade das erste Buch von JJ und bin noch am üben meine alten Muster zu unterbrechen und die Dinge anders zu machen. Dein Blog inspiriert mich immer wieder dazu. DANKE!!!
    LG, Stefanie

  • Höflichkeit mag heutzutage oft antiquiert erscheinen, weil sie lediglich die Form wahrt – aber es tut dem Miteinander SEHR gut, wenn zumindest diese geachtet wird. UND: es tut niemand weh. Höflichkeit muß ja nicht gleich einher gehen mit *Sich-Verbiegen*.

    Außerdem gestehe ich, dass ich (mitteljung wie ich bin) es nach wie vor für ein Zeichen einer guten Kinderstube halte, wenn man (Kind, Erwachsener, Mensch) in der Lage ist *Bitte*, *Danke*, *Guten Tag* und *Auf Wiedersehen* mit einer Prise Stil zu sagen…

  • „Dass ich etwas tun kann, wonach mir eigentlich nicht ist, und dass die Tat mich und meine Gefühle verändert…“: Ja! Genau das kommt vor, und man entdeckt es nur, wenn man es tut! Ich habe es entdeckt in einer einsamen und etwas schwermütigen Phase meines Lebens, wie es mein momentanes Lebensgefühl veränderte, zu lächeln, auch wenn mir gar nicht nach Lächeln zumute war. Es funktioniert sogar, wenn man gerade niemanden zum Anlächeln hat und nur einen Baum oder Nachbars Katze damit bedenkt.
    Und auch die Sache mit der Nächstenliebe geht nur, wenn man akzeptiert, dass Liebe nicht ausschließlich als Gefühl existiert, sondern sich auch im Handeln (trotz negativer Gefühle) ausdrückt.

  • …das hast du wieder schon und nachvollziehbar geschrieben, liebe Uta!
    Wie machst du das nur, dass man sich immer ein wenig in deinen Einträgen findet?

    Köstlich ist übrigens der Satz:

    „Man kann das mit der Authentizität übertreiben. Es gibt Leute, die sind so authentisch, dass sie schwer für andere und sich selbst zu ertragen sind.“

    Da laufen gerade innere Filme in meinem Kopf ab!

    Amüsierte Grüße!

  • Ich wage mal die Behauptung, dass sich die allermeisten Kinder freundlich und höflich den Eltern ihrer Freunde gegenüber zeigen. Zumindest bin ich immer wieder darauf angesprochen werden und habe auch die Freunde meiner Kinder nie anders erlebt.
    Das scheint das gleiche Phänomen zu sein, wie die Freunde der Kinder, die einem dann sagen: Ja, die xxx erzählt ja auch immer von ihnen, was sie alles so tolles machen.“
    Das sind dann die Momente, wo ich es grade noch schaffe, freundlich nichtssagend zu nicken und innerlich krampfhaft überlege, ob die jetzt meine, hier zu Hause meiner Meinung nach oft stoffeligen und übellaunigen Teenies meint, die kaum die Zähne auseinander bekommen.
    Aber ich höre es natürlich äußerst gern.. 🙂

    vg
    Caroline

    vg
    Caroline

    • Liebe Caroline, das ist das Phänomen „Stubenteufel und Gassenengel“ und zu Hause muss man sich auch ein bisschen gehen lassen dürfen, oder? Immer schön selber fröhlich bleiben, meint Uta und grüßt herzlich.

  • Genau diesen Satz wolte cih auch gerade zitieren, weil er mir sofort ins Auge gesprungen ist.
    JA, sage ich dazu nur. Mein Kind soll auch kein dressierter Affe werden, aber wie alle anderen sozialen Interaktionen ist es mir wichtig, dass es auch die der Höflichkeit, Begrüßung, Verabschiedung und die des Dankes lernt. Jeder Mensch möchte gerne höflich behandelt werden dun wenn man das von anderen erwartet, dann sollte man das auch selbst können und tun – Authentizität hin oder her. Respekt und Höflichkeit öffnet Türen und Herzen und erleichtert das Leben – und wenn es das meines Kindes erleichtert, dann bin ich stark dafür, dass es Höflichkeit lernt und erinnere auch gern daran.
    Scheint in der heutigen Zeit allerdings völlig überbewertet zu sein, wenn ich mir die stoffeligen Freunde meines Sohnes anschaue, die ohne Muh und Mäh an mir vorbei in meine Wohnung und wieder hinausschleichen… und die mitunter auch heftig abfärben auf den meinen.

    Herzlich, Katja

    • Welchen Satz meintest du denn, liebe Katja? Ich freue mich auf jeden Fall immer, wenn ein Kommentar von dir kommt, weil die häufig mehr als ein Kommentar, sondern ein Gastbeitrag sind. Danke dafür und herzliche Grüße, Uta

  • Den ersten ‚Punkt über die „Dankbarkeit als Haltung“ hast du wunderbar formuliert.
    Ich finde auch, wenn man es den Kindern vorlebt, können die gar nicht anders…
    Meine Kleine Tochter und ich radeln immer in den Kindergarten und auf dem Weg hin, oder auch heim treffen wir meistens jemanden oder sehen jemanden der oft den gleichen Weg täglich hat.
    Da sag ich halt Hallo oder Guten Morgen. Früher hat sie gefragt, Mama kennst Du die Frau oder warum sagst Du Guten Morgen? Jetzt grüßt sie mit und freut sich danach über ihre freundliche Geste und die vielen Lächeln und Grüße die zurückkommen.
    Liebe Grüße und ein schönes Wochenende. Angela

  • Hallo Uta,
    wieder einmal sehr schön geschrieben.
    Ich höre öfter, das meine Kinder zu Erwachsenen sehr freundlich sind ( auch wenn ich nicht dabei bin) und oft die einzigen in ihrem Alter, die z.B. im örtlichen EDEKA ein „guten Tag“ rauskriegen. Dabei ist es soo einfach.
    Ich erinnere mich immer gern an unsere Nachbarsoma, die, wenn sie nicht begrüßt wurde ( oder zu leise) grundsätzlich sagte :“Schade für das schöne Kind, das es stumm ist.“
    Wir waren immer bemüht so laut guten Tag zu sagen, das sie es nicht überhören konnte.
    Im Nachhinein hatte sie meiner Meinung nach sehr recht und ich habe mich auch schon dabei ertappt, das ich ihren Spruch auch losgelassen habe.
    Ich finde man merkt es auch relativ schnell, ob es einfach nur Schüchternheit ist, oder Abneigung gegen Guten Tag, Auf Wiedersehen usw., wer einfach nur stur und nicht schüchtern ist, kriegt von mir auch mal ein paar passende Worte.

    In einer Talkshow äußerte sich mal ein Arbeitgeber, er sagte das Umgangsformen bei der Jobsuche, gerade in der nächsten Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnen würden, weil gute Noten hätten ja viele.
    Aber wer über gute Umgangsformen verfügt, wird es einfacher haben einen guten Job zu ergattern, und das kann man in einem Vorstellungsgespräch sehr leicht feststellen, da würde er auch gern über eine 4 in Deutsch hinwegsehen, wenn der Rest stimmt. Wer sich allerdings nicht benehmen könnte, dem würde auch die 1 in Deutsch nicht helfen.
    Was nutzen die ganzen Abiturienten mit Super Zeugnis, wenn sie sich nicht auch „benehmen“ können.
    Das hat mich sehr beeindruckt und ich stimme dem gern zu.
    Liebe Grüße, ein schönes Wochenende und weiterhin viele so schöne Postings,
    Christina
    Die von Umarmungen und Küssen zur Begrüßung gar nicht viel hält. Zum Glück sehen das meine Freundinnen ähnlich ( natürlich wird auch zum Geburtstag gedrückt, oder wenn man im Urlaub war und wiederkommt, aber nicht 3x die Woche wenn man sich trifft). Meine Schwiegerfamilie ist da ganz anders und ich finde oft ist es einfach auch unehrlich, da ist mir ein Handschlag dann lieber.

  • Liebe Uta,
    mir ist es immer unangenehm, wenn wir beim Arzt mit der Lütten sind (Vorsorge), der Arzt sie begrüßt und ihr die Hand geben will … und sie sagt nichts. Die Hand geben muss sie nun wirklich nicht, aber Hallo sagen wäre super. Im KiGa morgens das gleiche. Sie sagt nichts beim Reinkommen, obwohl sie immer persönlich angesprochen wird. Die Erzieherin meinte, dass der Lütten das wohl unangenehm ist und das wäre so aber ok. Selbst, wenn wir uns mit einem anderen Kind verabreden, sagt sie kein Hallo. Das andere Kind allerdings auch nicht.
    Es gab ja mal ein Posting von Dir darüber, die Kinder nicht zum Dankesagen zu zwingen, sondern sie lieber aus vollem Herzen dankbar sein zu lassen. Und es ihnen vorzumachen, anstatt zu sagen: nun sag endlich danke! Das klappt auch gut so. Manchmal ist sie da einfach etwas schüchtern im Geschäft oder so. Kann man das denn jetzt auch auf diesen Post anwenden?
    Liebe Grüße,
    Dorthe

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >