Beitragsbild von Olia Danilevich von Pexels. Vielen Dank!
Gestern war ich fertig mit den Nerven. Meine Tochter, 11 Jahre alt, hatte den Nachmittag mit ihrer Freundin, einer Packung Butterkekse und dem Telefon (für Telefonstreiche) gibbelnd in ihrem Zimmer verbracht. Abends fiel ihr ein, dass noch Mathe zu machen war. „Ich check das nicht!“ Meine Tochter ist die aktuelle Rekordhalterin im „Ich-check-das-nicht“-Rufen. Es vergeht höchstes eine Zehntelsekunde, die sie Aug-im-Aug mit einer schulischen Aufgabe verbringt, bis sie „Ich-check-das-nicht!“ ruft. Und ich halte den Rekord darin, darauf zu reagieren. Ich leide unter einem Turbo-Mutterinstinkt. Als ich noch stillte, konnte im Supermarkt ein Baby am Kühlregal weinen und ich bekam in der Schlange an der Kasse einen Milcheinschuss.
Ich sehe ein, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen beiden Rekorden gibt.
„Ich check das nicht!“ – „Ja, warte, ich komme.“ Die Phase, in der ich mit einem vor Verständnis triefendem Lächeln sagte: „Versuche es doch erst einmal, Schatz. Wie stolz wirst du sein, wenn du es alleine gelöst hast“, ist abgeharkt. „Ich check das aber nicht!“ In dieses Gefecht ziehe ich nur mit blütenweißem Papier und einem frisch gespitzten Bleistift. Ich brauche eine Gegenwelt zu den schmutzig-verschwitzten Grau verkneteter Radiergummis und zu der schlampigen Arbeit, die Tintenkiller leisten.
„Lass mal sehen: Verbinde die Punkte A und B durch eine Gerade und zeichne eine Senkrechte …“ Ich seufze behaglich. Die Klarheit der Geometrie ist mir ein Trost. Für meine Tochter ist sie die blanke Provokation. Sie zieht eine Linie in ihr Heft, die mit den Ansprüchen des Begriffs „Gerade“ nichts zu tun hat. Mehrfach verrutscht das Geodreieck. Der Bleistift ist so stumpf, dass er die Präzision eines Textmarkers hat. „Ich hasse Mathe.“ Mit dem Radiergummi malträtiert sie die Seite. „Was war noch mal eine Diagonale?“ – „Oh, Gott, nicht einmal die Grundbegriffe sitzen, und das abends um halb acht.“
Schon meine Oma hat meiner Mutter geraten, in brenzligen Situationen tief durchzuatmen. Ich erinnere mich an Kinderarztbesuche, bei denen meine Mutter neben mir im Wartezimmer saß und so hörbar atmete, dass es ein Blätterrauschen gab im Ficus Benjamin neben dem Zeitschriftenständer. Sie hatte immer Angst vor einer schlimmen Diagnose und versuchte, sich mit einer Überdosis Sauerstoff zu beruhigen. Bei mir hatte das den gegenteiligen Effekt. Immer wenn jemand tief durchatmet, weiß mein Körper: Gefahr in Verzug.
Ich hatte also angesichts des Mathefiaskos tief durchgeatmet. Ein fataler Fehler: Sofort sah ich vor meinem inneren Auge meine Tochter als Obdachlose mit einem Schild voller Rechtschreibfehler in der Fußgängerzone sitzen.
Irgendwann war Mathe fertig. Aber wir beide auch. Ich war dem Reflex aller Eltern erlegen: Dem „Wir-haben-doch-so-viel-für-Euch-getan/gekauft/gebügelt/Brote-geschmiert und ihr gebt euch nicht mal Mühe bei den Diagonalen.“
(Postkartenbild: Ausschnitt aus Francine Van Hope: Les Dimanche de La Rochelle, 1993)
Das kommt mir ja so ÜBERHAUPT nicht bekannt vor … halb acht ist doch noch ne ganz gute Zeit, ich weiß gar nicht, was Du willst … reicht doch noch :-). Herzlichen Glückwunsch zum Start! Bin schon gespannt auf mehr. … kommt sofort zu meinen Lesezeichen! Liebste Grüße, Isa