Ich will das, was andere haben 

 21/09/2017

Warum Kinder sich egoistisch verhalten und ein Interview in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Gerade zieht sich ein Thema wie ein roter Faden durch mein Familien-Coaching:
Warum will mein Kind immer das haben, was Bruder, Freund oder Cousine hat?
Warum ist mein Kind nie zufrieden mit dem, was gerade passiert oder geboten wird?
Woher kommt das Gefühl, dass das, was andere haben, grundsätzlich besser ist?
Wieso sind meine Kinder so unersättlich, was Liebe, Aufmerksamkeit und Cola-Flaschen-Weingummis angeht?
Gestern habe ich mich hingesetzt und wollte dazu einen bahnbrechenden Artikel schreiben. Ich habe die Aufzählungstaste für die fetten Punkte gedrückt und wollte einen Tipp nach dem anderen runterrattern. Das mit dem Runterrattern gestaltete sich aber zäh, weil das so komplex ist, was zwischen Eltern und Kindern und zwischen Menschen überhaupt abläuft.
Als ersten Punkt hatte ich „Weil das Kind offenbar gelernt hat, dass man ihm nachgibt, wenn es meckert. Der Aufstand funktioniert, also wird er zur Methode.“ Ist doch klar! Man muss eben den Mumm haben durchzugreifen.
„Den Mumm durchzugreifen.“ Das schreibt sich so leicht bei einer Tasse Kaffee am Schreibtisch, der Blick schweifend über wohl geordnete Rabatten, in einem Haus, bewohnt von Erwachsenen, die ihren Teller gleich wieder in die Spülmaschine stellen und Cola-Flaschen-Weingummis einfach nur klebrig finden.
Der einzige Moment, in dem ich in diesen Tagen durchgreifen musste, war bei dem störrischen Packpapier, das an den Ecken riss, als ich es um Prinzessins Päckchen nach Kanada wickeln wollte.

Lichterkette für Prinzessins Zimmer im Internat, „Ufos“ als Dämm-Material.

Wir erinnern uns an eine Uta, die im Frühsommer mit dem afghanischen Gastkind im Badezimmer kämpfte. Es galt, westeuropäische Zahnhygiene-Standards durchzusetzen. Das Kind tobte, Uta schwitzte, das Kind hatte Mumm, Uta auch. Mal setze ich mich in diesen Wochen durch, mal Sadia. Es ging aus wie das Hornberger Schießen.
Die These:
Eltern, die sich immer durchsetzen und das Meckern ignorieren, bekommen zufriedene Kinder.
stimmt genauso wenig wie die These:
Eltern, die auf das Meckern eingehen, diskutieren und vieles durchgehen lassen, bekommen unersättliche Kinder.
Ich sehe und erlebe Eltern, die ich sofort als meine Eltern auswählen würde, sollte ich – eine buddhistische Weltsicht vorausgesetzt – noch einmal geboren werden. Diese Menschen machen sich unglaublich viele Gedanken über ihre Kinder, lesen Fachliteratur, buchen bei mir Coachings und haben sich dem Lebenszweck verschrieben, ihre Söhne und Töchter zu glücklichen Menschen heranwachsen zu lassen.
Gerade diese Leute haben signifikant häufig Kinder, die unzufrieden sind, die in schönster Geborgenheit und sattem Wohlstand aufwachsen und sich gebärden, als würde niemand mehr Mangel leiden als sie.
Was ist da los?
Neue These 1:
Es liegt am Charakter. Es gibt Kinder, die werden mit einem „Alles-nur-für-mich“-Gen geboren.
Daran könnte etwas dran sein. Auch wir haben charakterlich sehr unterschiedliche Kinder. Wir haben ein eher anspruchsvolles und ein eher nachgiebiges Kind. Das war bequem. Meist hat das eine Kind nachgegeben. Manchmal haben wir eingegriffen, weil das Unrecht zu laut schrie. Aber meistens nicht. Dann wurden die Spielsachen eben getauscht oder her gegeben und es war Ruhe.
Ist deshalb das Kind, dem wir nur im Extremfall (Gefahr für Leib und Leben) beigesprungen sind, weniger glücklich und selbstbewusst geworden als das andere? Unserem Eindruck nach nicht. Man hat ja auch viele Vorteile im Leben, wenn man eine Strategie der Kompromissbereitschaft fährt. Die Herzen fliegen einem zu.
Und ist das andere Kind ein herzloser Egomane geworden? In keiner Weise. Auch dieses Kind lernte über die Jahre – wie von selbst – Nachgiebigkeit und Mitgefühl, ist weiterhin zielstrebig und umgeben von vielen Freunden. Und wenn ich zwischendurch glaubte, ich wüsste, wie dieses, mein Kind, sei, passierte etwas, was das Bild erschütterte. Deshalb – und jetzt ein fetter Punkt davor:

  • immer gucken, welches Bild man von seinem Kind hat und es fröhlich hinterfragen: Stimmt das wirklich? Schicke ich mein Kind damit vielleicht sogar auf einen Weg, auf dem es dieses Bild bestätigt, weil es Kinder ihren Eltern nun einmal gerne recht machen?

Auf jeden Fall kann ich im Rückblick festhalten, dass Eltern viel zu sehr dem Glauben aufsitzen, sie könnten den Charakter ihres Kindes prägen und ein soziales Verhalten anerziehen. Damit zum nächsten Punkt:

  • Soziales Verhalten kann man vorleben, aber nicht anerziehen. Nur wer mitfühlend behandelt wird, kann auch Mitgefühl entwickeln. Wer mit der Botschaft aufwächst, du bist nicht in Ordnung, so wie du bist, wird sich nicht wandeln, sondern sich aus der Beziehung zurückziehen und verhärten.

Zurück zur These 1,  Dass bestimmte Kinder ständig das Gefühl haben, zu kurz zu kommen, liegt am Charakter. Es gibt Kinder, die werden mit einem „Alles-nur-für-mich“-Gen geboren. Stimmt die These oder nicht? Ich glaube, dass der Charakter wahrscheinlich einen Anteil daran hat. Aber er ist sicher nur einer von vielen Faktoren. Und zum Trost für Eltern eines solchen Kindes: Im Laufe der Jahre bekommen Kinder – schon allein durch Reifung – ihre Gefühle besser in den Griff. Dieser „Alles-nur-für-mich“-Anspruch verwächst sich nach und nach. (Außer vielleicht  bei Eltern, die die Worte „Nein“ oder „Stopp“ überhaupt nicht kennen.)
These 2:
Das „Alles-nur-für-mich“-Syndrom ist besonders unter Erstgeborenen verbreitet. 
Das ist meine Beobachtung. Ich habe keine wissenschaftlichen Belege dafür. Mir scheint es aber verständlich, weil die Erstgeborenen nach einer Zeit, in der sie Exklusivität genossen haben, plötzlich fast alles teilen müssen. Wer vom Kind verlangt, immer liebevoll zum kleinen Bruder oder zur kleinen Schwester zu sein, erwartet zu viel und macht die Sache nur noch schlimmer. Lieber unter vier Augen mit dem Erstgeborenen zum Ausdruck bringen, wie froh man ist, schon so ein großes Kind zu haben, wie hilfreich es ist, dass es schon so viel mehr kann als das Baby, und dass man verstehen kann, wie nervig es ist, wenn der Zwerg wieder alles kaputt gemacht hat.
These 3:
Das „Alles-nur-für-mich“- Syndrom entsteht bei Eltern, die von der tiefen, inneren Überzeugung getragen werden, sie seien als Kind ungerecht behandelt worden. Nun wollen sie bei ihren Kindern alles anders machen. Sie hängen das Leitbild „Gerechtigkeit“ über ihre Familie und verkämpfen sich darin, jegliches Unrecht von ihren Kindern fern zu halten und vor allem auch zwischen ihren Kindern für gleiche Verteilung zu sorgen. Sie verbreiten – in bester Absicht, aber doch fatal – eine Erbsenzähler-Mentalität unter ihren Nachkommen. „Lina hat aber einen Pommes mehr als ich auf dem Teller.“ – „Bei Raphael hast du mehr Sätze vorgelesen als bei mir.“ – „Jolene durfte den Knopf von der Garagentor-Automatik drücken, ich nicht.“ 
Ich bin überzeugt, an dieser These ist etwas dran. Meiner Einschätzung nach befördert ein übersteigerter Gerechtigkeitssinn, dass Kinder immer danach schielen, was der andere hat. Wenn sie ihre Eltern so erleben, dass jedes Bonbon und jede Streicheleinheit abgezählt wird, folgern sie: Wenn so darum gerungen wird, dann muss ein Mangel herrschen. Und bei jeder Verteilung fürchten sie eine Benachteiligung, hinter jeder Ecke vermuten sie ein Unrecht.
These 4:
Das „Alles-nur-für-mich“-Syndrom entwickelt sich bei Kindern, deren Eltern anfällig sind für die Idee, ihr Kind könnte in irgendeiner Form benachteiligt sein (weil erstgeboren, zweitgeboren, zuletzt geboren, so klein, so groß, so vorlaut, so schüchtern, weil Papa weg, weil Papa da ist, weil Mädchen, weil Junge, weil ich arbeite,  weil ich nicht arbeite ….). Diese Eltern gehen von einem Mangel bei ihrem Kind aus und bekommen es prompt von ihrem Kind gespiegelt: „Immer kriegt Lea, Tom oder Mike mehr auf den Teller, den besseren Würfel beim Spielen, mehr Anschwung beim Schaukeln, mehr dies, mehr jenes. Immer.“ Und dann kann Mama wieder sagen: seht ihr, sie leidet so unter …. Sie hat einfach einen emotionalen Mangel, einen Liebesspeicher, den sie mit allem möglichen Anderen auffüllen muss“.
An dieser These könnte etwas dran sein, an der „die-Eltern-haben-selbst-einen-Mangel“-These. Sie laufen ständig mit dem toxischen Grundgefühl herum, nicht gut genug zu sein, als Mensch im Allgemeinen und als Mutter oder Vater für ihr Kind im Besonderen. Diese Eltern sind wie ein Fass ohne Boden. Sie bieten ihrem Kind immer mehr und haben doch ständig das Gefühl, es würde nicht reichen. Sie müssten noch eine Geschichte vorlesen, noch einen Gefallen tun, noch eine tollere Idee für den Kindergeburtstag haben, noch einen bunteren Nachtisch reichen … Darüber brennen sie aus, ihnen platzt der Kragen, sie werden laut und grob, sind schließlich ganz zerknirscht und setzen am nächsten Tag ein Programm auf, das den Vortag toppen soll. Schließlich müssen sie ausgleichen, dass sie am Abend so ausfallend geworden sind. Aus dem „Alles-nur-für-dich“-Syndrom der Eltern wird ein „Alles-nur-für-mich“-Kind. Durch sein Verhalten setzt das kooperierende Kind die Eltern ins Recht über das Bild, das diese von sich selbst haben. Immer gilt: Kinder wollen es ihren Eltern Recht machen, auch wenn ihr Verhalten das Gegenteil davon zu sein scheint.
Was das toxische Selbstgefühl angeht, schreibe ich aus eigener Erfahrung. Durch meine Coaching-Fortbildungen ist mir dieses Gefühl bewusst geworden und ich habe es in den Griff bekommen – mit durchschlagender Wirkung auf unsere Kinder.
Immer fröhlich sich die Fülle bewusst machen, in der die meisten von uns und unsere Kinder leben.
Eure Uta
PS: Am kommenden Wochenende soll ein Interview mit mir in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erscheinen. Vielleicht habt ihr Lust reinzuschauen.

Titelbild von Charles Parker von Pexels, danke! Beitragsbild von mir. 

  • Liebe Uta,
    wieder einmal so wahre Worte. Mir gefällt besonders, dass Du eben nicht einfach Punkte runter ratterst, sondern von allen Seiten betrachtest. So fällt es leicht, selber auch zu überlegen, wo man eigentlich steht.
    Ich würde mich echt freuen, wenn Du noch ein paar Tipps hättest, wie man mit dem “alles für mich“Kind umgeht, während man an der eigenen
    Einstellung arbeitet ?.
    Viele Grüsse
    Stephie Richter

  • Liebe Uta,
    bei all dem Bemühen um Gerechtigkeit in Bezug auf Geschwisterkinder muss man aber doch auch feststellen, dass man eben nicht immer (!) gerecht sein kann. Sich dies einzugestehen finde ich sehr erleichternd. Es nimmt den Druck ständig „mitzurechnen“ und lässt den Protest der Kinder erstaunlich schnell ohne Groll verstummen. Dafür genügt der einfache Satz „Ich bin nicht (immer) gerecht – und beim nächsten Mal hast DU vielleicht Glück.“ Lächeln und fertig. Leider bin ich nicht selbst darauf gekommen 😉
    Liebe Grüße,
    Kathrin

  • Hallo Uta,
    danke für diesen wichtigen Artikel. Du hast in einem Gechwister-Artikel auch einmal über die Erbsenzählerei berichtet und wie man als Eltern damit umgehen kann. Ich habe mir das zu Herzen genommen. Dennoch streiten sich die Kinder oder beschweren sich über vermeintliche Ungerechtigkeiten. Aber ich kann damit besser umgehen und erkläre den Kindern dann auch, was für mich Gerechtigkeit bedeutet. Nämlich dass jeder unterschiedlich ist und das bekommt, was er mag oder gerade braucht. Zu seiner Zeit. Und dass ich nicht bereit dazu bin, alles gleich aufzuteilen, weil es anstrengend und auch nicht fair ist.
    Bei einer Freundin von mir klappt es ganz gut, dass sie für ihre Kinder alles gleich kauft/bastelt… da ist alles beschriftet und es ist ok, scheint den Kindern auch eine gewisse Sicherheit zu geben.
    Ich habe den Eindruck von unersättlichen Kindern auch eher bei Erstgeborenen (mich eingeschlossen, wobei sich das verwachsen hat) und besonders bei Kindern von Eltern, die versuchen, alles Recht zu machen, statt zu ihren Vorstellungen (1 Eis und basta) zu stehen.
    Seitdem mir das bewusst geworden ist, überlege ich erst, wie wichtig mir die Angelegenheit ist, bevor ich Nein sage. Und wenn ich dann eine Ansage gemacht habe, bleibe ich (meistens) dabei. Und ich freue mich, wenn ich mein Kind über die Ungerechtigkeit hinweg trösten darf, obwohl ich sie verursacht habe. Dann weiß ich, dass meine Grenze akzeptiert wird.
    Viele Grüße,
    Marie

  • Liebe Uta,
    vielen Dank für den Beitrag. Ich würde auch sehr gerne mehr über das toxische Grundgefühl lesen. Ich befürchte nämlich, ich stecke da mittendrin. Meine zwei Mädchen sind sehr Willensstark und ich versuche wirklich viel um allen gerecht zu werden und glücklich zu machen aber es scheint nie zu reichen. Will die eine raus gehen, möchte die andere rein. Möchte die eine laufrad fahren, möchte die andere schaukeln usw usw. Die zwei sind gerade zwei und drei Jahre alt, also kann ich soviel reden wie ich will und auch Kompromisse sind noch schwierig. Eine weint ständig und das ist nicht nur fünf Minuten nölig sein sondern richtig heftig. Ich fühle mich hin und her gerissen und am Ende des Tages total erledigt. Vielleicht hast du einen Rat. Vielen Dank für deine tolle Seite.
    Liebe grüße Janina

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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