Väterlicher Freund zwischen Buchdeckeln 

 27/07/2019

Zum Tod von Jesper Juul

Jesper Juul ist am Donnerstag gestorben.
Ich verdanke ihm so viel: als Mama, als Familien-Coach, als Mensch. In meinen turbulentesten Zeiten in der Katzenklo-Familie war er wie ein väterlicher Freund, ein Freund, der durch seine Bücher zu mir sprach, mir Wort für Wort wieder mehr Verständnis für meine Kinder, für meinen Mann und für mich selbst einflößte.
Juuls Bücher haben mich immer wieder gerettet aus Kontrollzwang, Drama-Queen-Gehabe und Unachtsamkeit. Und er konnte einem das Zuhören lehren. Als ich vor Jahren in Hamburg an der Uni einen Vortrag von ihm hörte, schrieb ich anschließend auf meinem Blog:
„Ein gutes Beispiel für wirkliches Zuhören ist der Shooting-Star unter den Pädagogen, ist der Familienberater Jesper Juul. Ich habe ihn bei einem Vortrag gehört. Wenn ihm jemand eine Frage stellte, verging so viel Zeit der Stille und des Nachdenkens, dass ich in der Zeit mit dem Fuß meine Tasche angeln, ein Eukalyptus-Bonbon herausholen und es in aller Ruhe aus dem Papier drehen konnte. Erst dann kam die Antwort des gemütlichen Dänen. Dass sich jemand in aller Öffentlichkeit so viel Zeit zum Nachklingen der Worte eines anderen nahm, wird mir immer in Erinnerung bleiben.“
Was Jesper Juul uns hinterlässt, ist ein großer Schatz.
Wer noch nichts von ihm gelesen hat, sollte mit diesen Büchern beginnen:

  1. Dein kompetentes Kind.
  2. Die kompetente Familie.
  3. Nein aus Liebe.
  4. Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? (ein Essay zur Frühbetreuung, kleines Heft, schnell gelesen)
  5. Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht.
  6. 4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen

Dies ist meine persönliche Empfehlung. Ich habe noch einige weitere Werke von ihm gelesen, aber die gerade Genannten hatten für mich den größten Gewinn, weil sie viele Beispiele enthalten.

Der Juul-Abschnitt in meinem Regal.

In meinem Buch „Doch! Erziehen kann leicht sein.“ habe ich am Ende in Kurz-Rezensionen die Literatur vorgestellt, die ich für Eltern hilfreich finde.
Hier daraus meine kleine Besprechung von Juuls „Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie“:
Juuls erstes Buch. Die deutsche Ausgabe erschien 1997. Trotzdem hat es nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Wer sich vertraut machen möchte mit den Überzeugungen des dänischen Familientherapeuten, sollte mit diesem Buch beginnen. Weil es – wie immer bei Juul – darum geht, wie wir in einer Familie „gleichwürdige Beziehungen“ aufbauen können, lesen es Babyeltern mit dem gleichen Gewinn wie die Eltern von Jugendlichen. Denn nach Juul kann man nicht plötzlich anfangen, sein Kind zu respektieren, an dem Tag, an dem es einem auf den Kopf spucken kann: die Grundlagen für gelingende Familienbeziehungen und eine gesunde Entwicklung des Kindes entstehen in seinem ersten Lebensjahrzehnt. In der Pubertät dann sollten sich die Eltern umstellen können von der Rolle der Erziehers zum „Sparringspartner“ des Heranwachsenden. Das Buch ist auch deshalb so hilfreich und gut zu lesen, weil es voller Beispiele steckt. Da ist von Louise, neun Jahre alt, die Rede, die ihre Eltern („vernünftige, aufgeschlossene Leute, die ihre Tochter sehr lieben“) mit ihrem rebellischen Verhalten an den Rand der Verzweiflung bringt. Wir können uns einfühlen in Karen, die nach Jahren des unerfüllten Kinderwunsches endlich das ersehnte Baby zur Welt bringt und völlig überfordert ist, als das Kind immer häufiger die Muttermilch oder den Brei ausspuckt. Nicht immer bietet Juul eine „Auflösung“ des Falls, dazu sind die Themen zu komplex. Trotzdem empfinde ich diese Kombination aus Theorie und Praxis sehr erhellend. Dass Kinder immer mit den Erwachsenen, vor allen mit ihren Eltern, kooperieren – diesen Gedanken in die Welt gebracht zu haben, ist – aus meiner Sicht – das größte Verdienst Jesper Juuls. Wenn ein Kind stört, so ist es nicht böse, sondern weist seine Eltern unbewusst auf ein Verhalten hin, das im Miteinander nicht funktioniert. Es gibt ihnen „ein qualifiziertes Feddback“. Es liegt in der Verantwortung der Erwachsenen, sich mit diesen Botschaften auseinander zu setzten. Mit Hilfe des Buches kommt man damit einen großen Schritt weiter.

Meine Besprechung von „Die kompetente Familie. Neue Wege in der Erziehung.“
In diesem Werk Juuls finden sich sehr hilfreiche Reflexionen des dänischen Familientherapeuten zu Themen wie ‚Grenzen‘, ‚Sozialkompetenz‘, ‚Aggression‘ oder ‚Haushaltspflichten‘. Eltern begegnen überraschend neuen Sichtweisen, die tiefer gehen, als das, was sonst Gedankengut in Talkshows oder in Elternkreisen ist. Allgemein verbreitete Überzeugungen zum Thema ‚Erziehung‘ werden wohltuend gegen den Strich gebürstet. Zum Beispiel: Sie plagen sich damit herum, dass Ihre Kindern zu wenig im Haushalt helfen? Juul schlägt folgendes Experiment vor: „Erlegen Sie Ihren Kindern bis zum Alter von etwa 14 Jahren niemals Pflichten auf. Sie werden im Lauf weniger Jahre durch eine Hilfsbereitschaft belohnt werden, die viel energischer und für beide Seiten konstruktiver ist, als es eine Erfüllung verordneter Pflichten je sein könnte.“ (Seite 141). Oder zum Thema Sozialkompetenz bei kleinen Kindern: Angenommen Ihr kleines Mädchen spielt in der Sandkiste mit einem Förmchen. Ein etwa gleichaltriger Junge fängt neben ihr an zu weinen, weil er ihr Förmchen haben möchte. Wenn Eltern ihr Kind zwingen, dem Jungen das Förmchen zu geben, damit es Empathie lerne, zeigen sie – so Juul – selbst wenig Empathie für ihr Kind. „Soll man seinen Mitmenschen immer das geben, wonach sie verlangen, weil sie sonst traurig werden? Soll die Vierzehnjährige mit ihrem Freund schlafen, weil er sonst frustriert ist? Soll der erwachsene Sohn seine Eltern besuchen, weil sie sonst traurig sind? …“ (Seite 42) Da kommen viele frohe Botschaften für Eltern zusammen, die sich gerne Gedanken über ihre Kinder machen und abseits tradierter Erziehungsvorstellungen Orientierung suchen.

Meine Besprechung von „4 Werte, die Kinder ein Leben lang tragen.“
In diesem Buch beantwortet Jesper Juul 27 Briefe von mehr oder weniger verzweifelten Eltern, einer Großmutter und einem 17-jährigen Sohn. Einmal „bearbeitet“ er eine Situation, die er in einem Restaurant erlebt hat. Wenn Juul Antworten auf konkrete Problemsituationen gibt, lese ich das immer mit großem Gewinn. Die Briefe sind vier Werten untergeordnet: Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung. Aber das empfinde ich als nebensächlich. Wie heißt es immer so schön: Die Wahrheit ist konkret. Hier würde ich sagen: Echte Hilfe ist konkret. Man erfährt mit vor Schreck geweiteten Augen, in welchem Schlamassel eine Familie steckt (ist gleichzeitig schwer erleichtert, solche Probleme nicht zu haben), nimmt einen Schluck Kaffee und liest dann, was der gelassene Däne tun und sagen würde, um da wieder rauszukommen. Meistens rät er, in einen Dialog zu treten. Und da er damit etwas völlig anderes meint als das, was die meisten Eltern praktizieren, gibt er Formulierungshilfen an die Hand. „Soll der Dialog gelingen, braucht es absolute Ehrlichkeit und den Willen beider Eltern, die Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen. Das könnte sich beispielsweise so anhören: ,Seit deine Schwester geboren wurde, waren wir oft unzufrieden mit deinem Verhalten. Erst jetzt sehen wir, dass wir es waren, die dich damals im Stich gelassen haben. Das tut uns sehr leid …ʻ“ Wie in allen Juul-Büchern, die ich bisher gelesen habe, kann man sich auch in diesem vollsaugen mit einem Grundgefühl von Respekt für das einzelne Kind. So gestärkt, tritt man wieder vor seine eigenen Kinder und alles geht gleich viel besser.
Und hier noch mein Lieblings-Zitat aus Juuls Pubertätsbuch:

Was unsere Kinder in der Pubertät von uns brauchen, …, ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben. Doch das ist nicht unsere Tradition als Eltern. Wir verhalten uns eher wie Lehrer, sitzen mit einem Rotstift da und schauen, was noch nicht richtig ist. Das ist weder für die Kinder hilfreich noch für die Eltern.“ (Jesper Juul: Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht. Gelassen durch stürmische Zeiten. München 2010, Seite 23)

Danke, Jesper Juul, dass du in meinem Leben und in dem Leben vieler Familien einen so großen Unterschied gemacht hast!
Immer fröhlich seine Liebe zu kleinen und großen Menschen weitertragen und sein Werk verbreiten,
eure Uta
PS: Zum Weiterlesen über Juul sei euch noch mein Interview mit Juul-Familientherapeutin Claudia Hillmer ans Herz gelegt.
https://www.wer-ist-eigentlich-dran-mit-katzenklo.de/2018/06/juul-geht-erst-ins-herz-dann-in-den-kopf/

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Uta


Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

Deine, Uta

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