Jungs verstehen, Teil 1 

 30/03/2012

Warum Stillsitzen ihnen besonders schwer fällt

Wenn ich unsere Regentonne sehe, muss ich immer daran denken, wie Kronprinz damit experimentiert hat, als er elf oder zwölf Jahre alt war. Am unteren Rand ist ein durchsichtiger Schlauch befestigt. Er ist nach oben gebogen und dort festgeklemmt. Am Schlauch kann man immer den aktuellen Wasserstand in der Tonne ablesen. Unser Sohn musste den Schlauch oben lösen und sehen bei welchem Neigungswinkel das Wasser daraus schießt. Häufig stand unsere halbe Einfahrt unter Wasser. An seinen brackigen Hosenbeinen war ebenfalls der Wasserstand in der Tonne ablesbar. Aber als in Physik das Gesetz von den kommunizierenden Röhren dran kam, hatte er damit keine Schwierigkeiten.
Jungen entdecken die Welt durch Handeln, schreibt die Lerntrainerin Vera Birkenbihl.
Bei Mädchen gilt:

  1. sich auskennen
  2. dann damit experimentieren
Bei Jungen gilt:
  1. experimentieren
  2. sich dann damit auskennen
In Schwaben sagte man früher zu Kindern, die alles anfassten: „Gucken tut man mit den Augen.“
Liebe Schwaben! Kinder sind so. Die müssen mit den Händen gucken dürfen, besonders die „Buben“.
Dass Jungen nicht genug experimentieren können, ist einer von mehreren Gründen, warum Jungs im Durchschnitt mehr Schwierigkeiten in der Schule haben als Mädchen.
Ich könnte zehn weitere Blogs füllen mit den Erfahrungen von Eltern, deren Söhne phasenweise in der Grundschule nicht zurecht kamen.

„Unser Lasse kann sich einfach nicht konzentrieren.“ – „Stillsitzen ist für meinen Tim die Hölle.“ – „Im Ranzen von Paul sieht es aus als wäre er ein tragbarer Mülleimer.“
Ein weiterer Grund für die Schulschwierigkeiten von Jungs ist, dass sie sich dort nicht genug bewegen können. Bei Jungen beträgt der Anteil der Muskeln an der Körpermasse 40 Prozent, bei Mädchen sind es nur 24 Prozent. Besonders Jungen im Grundschulalter sind programmiert auf Bewegung. Tun sie es nicht, verkümmern ihre Muskeln.
Vera Birkenbihl nennt Jungs „Augentiere“. Noch aus ihren Zeiten als Jäger seien sie auf Spurenlesen eingestellt und bis heute viel besser darin, Informationen aus Bildern aufzunehmen als zu hören. Hier liegt der dritte Grund für Schulschwierigkeiten unserer Söhne. Mit Vorträgen können sie nicht viel anfangen. Sie bekommen nicht genug visuelles Futter.

Randbemerkung: Worum es hier geht, ist natürlich eine Tendenz. Keine Frage – es gibt auch Mädchen, auf die diese Beschreibung zutrifft, und Jungs, die ganz anders sind als hier typisiert.

Die Erkenntnisse von Vera Birkenbihl lassen sich auf folgenden Nenner bringen:
Männliche Körper wollen nicht stillsitzen.
Männliche Hirne wollen nicht von vorne zu gequatscht werden. 
Leider genau das, was in der Grundschule überwiegend passiert.
Was können wir als Eltern zum Ausgleich tun:

  • erst einmal ruhig Blut: Wenn man weiß, wie Jungen ticken, kommt man viel besser damit klar.
  • Zu Hause in einem Korb bereitliegen haben zum Beispiel:

Außerdem: Jonglierbälle, Softball, Eimer, in den man hineintreffen muss, kleiner Basketballkorb für die Zimmerwand, Hula Hoop.
Der Kronprinz fährt gerne mit dem Waveboard um den großen Esstisch. Aber das ist nicht jedermanns Sache. Meine eigentlich auch nicht.
Immer fröhlich vor allem die Jungs in Bewegung halten.
Eure Uta

Titelbild von Anastasia Shuraeva von Pexels. Vielen Dank!

  • liebste uta,

    ich stimme dir voll und ganz zu – mit einer kleinen ergänzung: auch mädchen lernen besser/freier/selbstbestimmter wenn sie entdecken, experimentieren und rasen – trotz der geringeren muskelmasse. das wird leider oft unterschätzt.
    als mutter dreier damen weiß ich wovon ich rede. kleine wettkämpfe, dreckige hosen und totales auspowern sind bei uns an der tagesordnung – manchmal sogar ganz ohne köpfchen 😉

    und warum kommen sie dann in der grundschule (meist) besser zurecht? sie können sich leider besser anpassen. glaube mir, das stillsitzen ist das meistgefürchteste element in der schule.

    ansonsten: es ist immer wieder ein genuss, bei dir vorbeizuschauen!!!

    liebe grüße,
    saskia

  • Liebe Uta,

    es ist soooo schön, Deine Posts zu lesen!

    Unsere Jungs kamen oft vom Draußenspielen bis unter die Achseln nass und voller Matsche nach Hause: „Wir sind AUS VERSEHEN in den Bach gefallen … ganz aus Versehen, Mama!“ Herrlich, wenn das möglich ist. Ich fand das immer super. (Einzige Ausnahme: Neuen Schuhen tut das Bad im Bach nicht ganz so gut …)

    Am besten finde ich Deinen Satz „Männliche Hirne wollen nicht von vorne zu gequatscht werden.“ Das gilt aber nicht nur für Jungs im Grundschulalter 😉

    Love,
    Isa

  • Achja – fast täglich Thema. Dabei haben wir den Flur schon für Hand- und Fußballspiele freigegeben und ins Kinderzimmer einen Basketballkorb gehängt. Leider folgen die Lehrer unserer Argumentation von „Jungs sind anders“ gar nicht. Also manchmal tut er mir wirklich leid, mein Sohn 😉 lg

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >