Gestern Abend waren mein Mann und ich im Kino. Der Film, der in Saal 2 unseres kleinen Vorstadtkinos lief, sollte eine Komödie sein und war in der Kritik recht gut besprochen worden. Wir konnten aber weder lachen noch weinen, saßen mit einem Kloß im Hals da und sahen zu, wie Menschen verloren und unglücklich durch ihr Leben taumeln, Beziehungen eingehen eher aus Einsamkeit als aus Liebe, von zynischen Freunden fallen gelassen werden, sich als Ersatz an ihre überforderten Kinder klammern oder zu diesem Zweck erst noch welche machen … Bald war auch klar, dass dieser Film keine Erlösung für seine Protagonisten bieten würde, mit wechselnden Partnern und weiteren Kindern würden sie sich weiter im Kreis um sich selber drehen.
Sonst rutsche ich nach einem guten Film, so herrlich entrückt, noch tiefer in den Sessel und sehe den Abspann bis weit nach Einblendung von Assistent Nummer 3 des stellvertretenden Kabelhalters. Diesmal aber gingen wir als erste, seltsam niedergeschlagen, und jeder suchte sich zu Hause etwas, um diesen Film aus dem Kopf zu kriegen, am besten mit einem Schieber – ritsch, ratsch – wie bei einer Magnettafel.
Wir haben beschlossen, uns das nächste Mal Plätze am Rand geben zu lassen und sofort zu gehen, wenn sich im Hals dieser Kloß zu bilden anfängt. Dann gehen wir lieber spazieren oder eine Weinschorle trinken. Das ist Detox für den Geist.

*

Ich lese gerade ein Buch („Der Mythos des verwöhnten Kindes“ von Alfie Kohn), in dem es in einem Kapitel darum geht, dass Kinder bedingungslose Liebe empfangen sollten. Da wird jeder sofort heftig nicken und auch ich malte Ausrufungszeichen an den Rand, eins fetter als das andere. Bedingungslose Liebe. Ja! Das ist so ein Wert, der wird auch gerne in Handtücher oder auf Kopfkissen gestickt. Als ich aber so darüber nachsann, wurde mir klar, dass einen das in die Irre führen kann. Da macht man so ein großes Fass auf – bedingungslose Liebe, wow – und da werden so Mutter-Teresa-hafte Erwartungen aufgebaut, die einen eher ausbrennen als aufbauen.

Ich behaupte mal, dass – bis auf wenige pathologische Fälle – alle Eltern ihre Kinder lieben. Da muss man sich nicht drum bemühen. Das ist einfach da. Wenn ich mir die Angst einreden lasse, mein Kind würde nicht ausreichend geliebt und ich sage es ihm noch dreimal mehr, dass diese Liebe bis zu diversen Planeten reicht und wieder zurück, das Ganze aber von der Angst getrieben ist, mein Kind könne sich doch nicht so geliebt fühlen, weil ich zu dem Lolly heute „nein“ gesagt habe, und weil es seine Zähne putzen musste und weil keine Zeit war für das Rollenspiel mit dem rosa Elefanten, dann ist da etwas faul. Dann gehe ich von einem Mangel aus und das führt auf die falsche Fährte. Als würde meine Liebe nicht ausreichen oder nicht rüberkommen. Das kann dazu führen, dass Eltern ihre Kinder mit Samthandschuhen anfassen, sich kaum trauen, mal „nein“ zu sagen. Und dann wächst ihnen alles über den Kopf.

Dem jüngsten Bericht des Müttergenesungswerkes zufolge hat allein zwischen 2003 und 2013 die Zahl der Erschöpfungsdiagnosen bei Müttern um mehr als 30 Prozent zugenommen (Hamburger Abendblatt, „Die ausgebrannten Mütter“, 16. Juni 2016. Das hat sicher vor allem mit der Doppelbelastung in Beruf und Familie zu tun, aber auch damit, keine klaren Bedingungen für das eigene Wohl stellen zu können.)

Welches Bild habe ich von meinem Kind, für wie schwach halte ich es, als dass es nicht mal mit einer Absage, einer Enttäuschung, einer Niederlage zurecht kommen könnte – auch ohne Ausgleich, Trostgeschenk, neuen Versprechungen? (Ich kann darüber so eindringlich schreiben, weil ich vor meinem Mama-Burnout damals genau von dieser Angst getrieben war, dass meine Liebe nicht als bedingungslos herüber kommen könnte.)

Aber machen wir uns nichts vor, wir stellen ständig Bedingungen und das brauchen wir auch. Unsere Liebe ist bedingungslos, aber unser Zusammenleben, unser Funktionieren als Familie nicht.

Wenn ich eine harte Nacht hatte mit dem Baby, kann ich am anderen Tag als Mutter nur funktionieren, wenn (=Bedingung) ich mich mal eine Weile hinlegen kann. Das setzte ich in aller Klarheit durch, ohne mir einzureden, mein Kleiner würde sich nicht geliebt fühlen, weil ich dann kein Lego mit ihm baue.

Für mich entsteht ein schönes Zusammensein in Familie, wenn man einander ausreden lässt.

Ich fühle mich wohl mit meinen Lieben, wenn von Zeit zu Zeit auf den Tisch kommt, was unter der Oberfläche brodelt.

Als die Kinder klein waren, war ich viel ausgeglichener und geduldiger im Zusammensein, wenn mein Mann mir gelegentlich ermöglichte, auf eine Fortbildung zu gehen.

Die Kleider der Kinder werden nur gewaschen, wenn sie im Wäschekorb liegen.

Wenn ich mich so wenig liebe, dass ich kaum auf mich selbst achte, wie soll dann meine bedingungslose Liebe überschwappen auf mein Kind?

Immer fröhlich sich klar machen, welche Bedingungen für dich erfüllt sein müssen, damit es gut läuft in der Familie, und ohne Skrupel Kinos verlassen.

Eure Uta

PS: Wer meinen Blog liest, weiß, dass ich davon ausgehe, dass natürlich niemand seinem Kind sagt: „Mama/Papa/Oma hat dich nur lieb, wenn …..“ 

  • Zu Deinem PS: Das ist leider nicht so selbstverständlich, wie es klingt.
    Neulich musste ich meine Mutter indirekt zurechtweisen, nachdem sie meinen vor Müdigkeit weinenden und trotzenden Zwerg anging mit: Wir mögen keine Weinekinder.
    Da musste ich aber mal vehement eingreifen: Das stimmt nicht! Wir mögen den Zwerg immer, auch wenn er mal weinen muss.
    Solche Sprüche sind zwar nicht so gemeint, wie sie bei genauerem Hinsehen klingen, aber sie wirken deutlich stärker als die Beispiele, die du aufgezählt hast, weil hier tatsächlich das Kind und nicht sein Verhalten kritisiert wurde.

  • Liebe Uta,
    ich kann deine Gedanken nachvollziehen. Das neue Buch von Alfie Kohn habe ich noch nicht gelesen, sein „Liebe und Eigenständigkeit“ aber schon.
    Für mich spiegelt sich bedingungslose Liebe weniger in den Alltagsabmachungen wieder, die du beschreibst. Will sagen: Das widerspricht sich für mich nicht. Ja, unbedingt müssen wir Eltern auch immer auf uns selbst achten! Nicht nur, aber unter anderem auch, weil wir so Vorbilder darin sind, dass jeder auf seine eigenen Bedürfnisse hören sollte. (Sieht Alfie Kohn das anders?)
    Aber es gibt für mich manche Winzigkeiten, die uns kaum etwas kosten würden, sie besser zu machen. Wie du schreibst, sagen wir natürlich nicht: „Mama/Papa/Oma hat dich nur lieb, wenn …“ Aber manchmal rutschen uns subtilere Formen doch heraus. Zum Beispiel: „Mach diesunddas nicht, sonst wird Papa/Mama traurig/wütend.“ Hier bräuchte es nur wenig Überwindung und Umdenken, um klarer und ehrlicher zu kommunizieren, was wir wollen – und nebenbei dem Kind nicht das Vertrauen in die Bedingungslosigkeit der elterlichen Liebe zu entziehen.
    Und ja, mein (Klein)Kind soll unbedingt Erfahrungen mit Absagen, Enttäuschungen, Niederlagen machen, ohne dass ich mit Ersatz oder Ablenkung den Schmerz lindere; dies wäre für mich materielle Ersatzbefriedigung. Demgegenüber finde ich Aufmerksamkeit und Trost nicht nur legitim, sondern sogar angebracht. (Nicht, dass mir das immer gelänge! Aber diese Idee ist mein Leitstern.)
    So, jetzt habe ich viel geschrieben. Aber wahrscheinlich meinen wir beide unterm Strich das gleiche, oder?
    Viele Grüsse
    die Quatschmama

  • Liebe Uta,
    ich habe das Buch im Urlaub gelesen. Und ich hatte „bedingungslose Liebe“ genauso verstanden: Wir lieben Dich, ganz egal wer, was und wie Du bist. Mit Mutter Theresa hat das für mich gar nichts zu tun. Er schreibt ja nicht von bedingungsloser Hin- und Aufgabe der eigenen, der Mutter- und Vater-Bedürfnisse. Ich mag Deinen Blog und Deine Artikel sehr, aber ich finde in diesem Fall gibt es ein falsches Bild eines Teils des Buches wider.
    Herzliche Grüße, Martina

  • Liebe Uta!
    ….- ich würde mal alle fettgedruckten „wenn“ von dir durch „weil“ ersetzen! Dann klingt es für mich positiver, plausibler und auch nicht als Bedingung sondern Begründung:-)
    Toller Blog
    Liebe Grüße
    Katrin

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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