Statt Wut-Begleitung lieber Brote machen - "gefühlsstarke" Kinder

Ich sitze in unserer kleinen Wohnung in München, die Kastanie im Hof trägt die letzten Schrumpelblätter und gestern war Allerheiligen. Mein Mann und ich sind am Abend noch zu dem kleinen Friedhof um die Ecke gelaufen. Leider war das schwere Eisentor verschlossen, deshalb konnten wir nur durch die Gitter lugen und ein paar Kerzen in ihren roten Bechern leuchten sehen. Die Menschen gedenken ihrer Toten. Ich muss an eine Lehrerin von Prinzessin denken, die vor wenigen Wochen im Alter von 37 Jahren gestorben ist. Leben ist so kostbar.

Und dann sitze ich im Zug wie vorgestern und lese in Nora Imlaus neuem Buch „Du bist anders, du bist gut. Gefühlsstarke Kinder beim Großwerden begleiten“ (München 2019). Seite um Seite geht es darum, wie der Neocortex im Gehirn endlich die überschießenden Gefühle in den Griff bekommt. Bei allen Kindern sei das so, bei gefühlsstarken Kindern aber besonders. Und dass es 25 Jahre dauert, bis das Gehirn ausgereift ist (S. 53/54). Und dass Eltern von gefühlsstarken Kindern eben durch diese schwere Zeit müssten und sie weiter trösten, mit Geduld begleiten, die Anstrengung aushalten müssten, wenigstens wissend, sie seien nicht allein, weil andere Eltern auch so ein anstrengendes Familienleben hätten. 

Irgendetwas - musste ich heute morgen denken - ist aus den Fugen geraten. Sehnen sich viele Erwachsene nach der Unbekümmertheit ihrer Kinderjahre zurück, klingt es bei Nora Imlau, als sei die Kindheit eine Zeit, die es auszuhalten und zu überwinden gilt, bis dann das Gehirn so weit ausgereift ist, dass es die Wut dieser Kinder endlich in den Griff bekommt. Puh, endlich erwachsen. Puh, endlich bringt es die überempfindliche Amygdala (Teil des Limbischen Systems im Gehirn) nicht mehr aus dem Konzept, auf einem Kindergeburtstag eingeladen zu sein. 

Ich muss an meine Tante Fine (97) denken. Anfang dieses Jahres habe ich sie für einen Zeitschriften -Artikel interviewt. Mehrere Stunden haben wir zusammen gesessen und über ihr Leben gesprochen. Und wisst ihr, was das größte Glück in ihrem Leben war? Die Sonntage als Kind. Als ihr Vater, mein Opa, sie und die drei älteren ihrer fünf Geschwister vor Sonnenaufgang weckte und mit ihnen durch den Wald lang zur Kirche lief, den Vogelstimmen lauschte und ihnen Tierspuren zeigte. Hätte mein Opa lange gefragt, ob jedes der vier Kinder das wirklich wollte, hätte er jedes einzelne in seiner Wut begleitet, weil ein Hosenknopf nicht zuging oder ein Kniestrumpf kratzte, hätte er vorher Ersatz-Eicheln besorgt für das Kind, das erfahrungsgemäß austickt, wenn es nicht genug findet, dann hätte die kleine Wandertruppe erst den Wald erreicht, wenn auch der letzte Vogel verstummt wäre. 

Und obwohl mein Opa mehr den Ausflug als Ganzes im Blick hatte, als die Befindlichkeiten seines großen Theos, der schüchternen Margret, der aufgeweckten Fine und der kleinen Mia, werden dennoch diese Ausflüge mehr als 80 Jahre später von der alten Dame als das größte Lebensglück erinnert. 

Verklärung? Sicher auch ein Stück weit. 

Trotzdem frage ich mich, ob wir als Eltern annähernd solche Erlebnisse erschaffen, wenn wir uns in die feinsten Verästelungen der Bedürfnisse unserer Kinder verlieren, halbe Tage darüber grübeln, ob dieses nun ein Wunsch oder ein Bedürfnis war, uns am Ende des Tages geißeln, weil wir auf den noch nicht genug ausgereiften Neocortex unseres Jüngsten genug Rücksicht genommen haben. 

Mir gibt es sehr zu denken, dass aktuell Bücher die Bestsellerlisten stürmen, in denen Kindheit als eine so große Anstrengung beschrieben wird und das Miteinander von Eltern und Kindern nicht klingt wie Familienleben, sondern eher wie das nicht enden wollende Treffen einer Selbsthilfegruppe. 

Kinder lachen - eigentlich - viel mehr als Erwachsene. Kindheit stand mal für Unbekümmertheit. In aktueller Erziehungsliteratur klingt es eher so, als müssten Erwachsene Kindern helfen, ihre Gefühle zu regulieren und glücklich zu werden. Wo ist nur der schöne Gedanke geblieben, dass wir Großen uns von der Unbekümmertheit etwas abgucken könnten und dass wir wieder mehr werden sollten wie die Kinder. Stattdessen meinen wir, uns mit der vermeintlichen Unreife ihres  Gehirns herumschlagen zu müssen. Je mehr wir gegen ihr Unglücklichsein ankämpfen, desto mehr manövrieren wir sie da hinein.

Im gleichen Zug, in dem ich in Nora Imlaus Buch las, schaute ich kleine Videos von Vorträgen des spirituellen Lehrers Eckhart Tolle an. Das tat mir gut nach so viel angelesener Anstrengung mit Kindern. 

Eckhart Tolles Worte erfüllten mich mit tiefem Frieden, ich schlürfte meinen Kaffee und ließ mich glücklich durch das herbstliche Bayern fahren. 

Wie merkwürdig, dass wir als Erwachsene in Meditationen, in Achtsamkeitskursen und bei Eckhart Tolle mühsam wieder lernen müssen, unseren Verstand möglichst auszuschalten, während gleichzeitig Bücher populär sind, die behaupten, es würde mit den Kindern alles besser werden, wenn der Verstand endlich ausgereift sei. Und vorher müssten wir diese Unreife ausgleichen, in dem wir möglichst auf ihre Bedürfnisse eingehen und sie geduldig begleiten bei ihren Ausrastern. 

Was mir bei Nora Imlau fehlt, sind ein paar Ideen, von denen ich zutiefst überzeugt bin: 

  • dass Familie als System zu betrachten ist
  • dass Kinder immer kooperieren (eben auch mit unserer Haltung sie seien gefühlstark, weniger belastbar …)
  • dass wir kraft unserer Gedanken Realität erschaffen und als Eltern ein Stück weit auch die Realität unserer Kinder. 

Und wenn ich den Gedanken, mein Kind sei gefühlsstark, zum Mantra erhebe, dazu Blogs und Bücher lese, soll das keine Auswirkung auf mein Kind haben? Zumal auf ein hoch Sensibles?

Nochmal zum Beispiel mit der Waldwanderung. 

Wenn ich an der Stelle meines Opas im Vorfeld folgende Gedanken gehabt hätte:

  • Mit Theo könnte es schwierig werden. Er ärgert sich immer, dass die Kleinen ihn aufhalten.
  • Fine wird sicher einen Wutanfall bekommen, wenn sie den Reißverschluss ihrer Jacke nicht gleich zubekommt.
  • Wenn Margret unter Fines Ungeduld zu leiden hat und von ihr eine gewischt bekommt, muss ich mir Zeit nehmen, sie zu trösten.
  • Ich muss aufpassen, dass Mia ihr Schlummertuch dabei hat, sonst kommen wir nicht bis zu ersten Kreuzung.

wäre der Ausflug wahrscheinlich gar nicht oder nur unter größten Mühen zustande gekommen. Ich hätte nie wieder einen gemacht oder Ideen in der Art entwickelt, dass mein Mann gesondert etwas mit Fine macht, während wir anderen …

Wenn ich mich aber auf den Ausflug freue, begeistert bin, weil wir zusammen etwas unternehmen, ich ihnen am Vorabend schon Bilder von den Vögeln zeige und wir Pläne schmieden, dann helfen mir meine Gedanken, eine andere Realität zu erschaffen, dann fokussieren wir uns auf die Freude, im Wald zu sein. Niemand lässt sich von echter Freude so leicht infizieren wie Kinder. Ja, und wenn Fine wütend wird, weil ihre Jacke nicht zugeht, dann helfe ich schnell, bin aber bald wieder draußen, weil ich noch die Tüte holen will zum Kastaniensammeln. Dann hat auch Fine keine Zeit, sich groß über einen Reißverschluss zu ärgern oder die kleine Schwester zu hauen, weil alle sich freuen und schnell nach draußen wollen. Statt Wutbegleitung mache ich lieber Brote und stopfe sie in den Rücksack. Und Theo, der schon mit den Stiefeln scharrt, kann vorlaufen und gucken, ob Eis auf den Pfützen liegt. Und wenn ich den Eindruck habe, dass Klein-Mia bei dem Aufbruch etwas unter die Räder gekommen ist und Nähe braucht, trage ich sie ein Stück durch den Wald. Margret ermutige ich vielleicht über einen Baumstamm zu balancieren. Aber das Ganze geschieht eher beiläufig und muss auch nicht sein. Im Mittelpunkt steht die Freude, zusammen und in der Natur zu sein, und nicht die bohrende Frage, für welches meiner Kinder ich wieder irgendetwas ausgleichen muss. 

Es macht einen riesigen Unterschied, ob ich durchdrungen bin von der permanenten Sorge, irgendeines der Kinder könnte zu kurz kommen und ständig um sie herumwusele, oder ob ich begeistert voranschreite in das nächste Abenteuer.

Immer schön fröhlich bleiben, lasst euch nicht einreden, Kindheit müsse anstrengend und Familienleben ein Bedürfnis-Ausgleichs-Verhandlungsmarathon sein,

eure Uta 

Photo by Caleb Oquendo from Pexels.

Zum Weiterlesen:

* Hier ging es um Nora Imlaus erstes Buch, was du daraus mitnehmen kannst und was besser nicht.

* In "Lebensfreude ist hoch-infektiös" habe ich über einen Morgen mit dem Kronprinzen geschrieben und warum mit Begeisterung alles leichter geht.

* Hier habe ich meine Erkenntnisse darüber geteilt, wie Kinder ein gesundes Gefühlsmanagement lernen.

  • Hallo liebe Uta!
    Bisher bin ich eher stille Mitleserin 😉 Beim Lesen ist mir das Lied von Reinhard Mey eingefallen: Du bist ein Riese, Max!
    Es sind doch immer wir Erwachsenen, die es mit (zuviel) Überlegen und Vorsorgen oft kompliziert machen! Bis ich manchmal aus dem Haus komme, weil ich auf jedes mögliche Bedürfnis vorbereitet sein will, ist viel (gute) Energie verloren gegangen. Das find ich selbst so schade. Und von meinem kleinen großen „Riesen“ kommt dann: „Ach Mama, mach Dir doch nicht so viele Gedanken“. Sie brauchen uns als Begleiter, nicht als Vor-allem-Bewahrer, und dann schaffen sie viel mehr, als wir uns vorstellen können.
    Vielen lieben Dank für Deine tolle, einfühlsame, Arbeit. Ich freu mich jedes Mal, wenn die Nachricht über einen neuen Eintrag kommt. Und jedes Mal bringt es/bringst Du mich weiter. DANKE!!!
    Liebe Grüße
    Mary

    • Liebe Mary, ganz herzlichen Dank für deine Worte! Ich freue mich sehr über die Anerkennung! Woher wusstest du, dass ich „Du bist ein Riese, Max!“ auch so liebe? ? Und du hast einen weisen „Riesen“ an deiner Seite, oder? Ganz liebe Grüße, Uta

  • Hallo Uta, wie immer ein schöner Denkanstoß. Der unterste Link zum Gefühlsmanagement landet aber bei der ansteckenden Lebensfreude (vielleicht auch ein Wink mit dem Zaunpfahl 😉 ).
    Übrigens sehr schade, dass ich am Dienstag nicht zu Deiner Lesung kommen kann, weil ich Physiotherapie habe und noch eine Fortbildung hintendran. Ich hätte Dich gern mal live kennengelernt! Viel Spaß trotzdem in Bottrop!
    Lg Katharina

    • Liebe Katharina, danke für deinen Hinweis und dass du geschrieben hast. Das mit dem Link repariere ich zu Hause, denn gerade sitze ich in einem ICE ohne Wlan. Herzliche Grüße, Uta

    • Wieder mal ein wohltuender Artikel! Ich glaube auch fest daran, dass Familienleben nicht immerzu anstrengend und kräftezehrend sein darf (- sonst läuft bei uns Großen! irgendwas schief.) Und dies erreiche ich weniger durch das Fokussieren auf mein Kind, als viel mehr fokussieren auf meine eigenen Bedürfnisse, Ressourcen und meine Lebensfreude. Dann bin ich entspannt, geerdet, in meiner Mitte und kann mit Leichtigkeit und Ruhe die Empathie und Führung geben, die meine Kinder brauchen, um sich ihren eigenen Prozessen (spielen, lernen, entwickeln) zuzuwenden. Dazu eine Portion Vertrauen in die Selbstregulationsfähigkeiten und die (positive) Erwartungshaltung, dass mein Kind kooperieren und der Gemeinschaft nutzen möchte – und fertig kann ein Alltag sein, mit dem sich alle wohlfühlen können…
      LG Jitka

  • Liebe Uta, danke für diese einfühlsamen Zeilen, die aber so viel Wahrheit beinhalten – heute ist nichts mehr normal, heute muss überall so viel reininterpretiert werden … – Kinder sind keine Kinder mehr sondern Versuchskaninchen oder sie müssen „repariert“ werden. Ich hab’s ehrlich gesagt so satt immer wieder von der „Unperfektion“ zu lesen und bin dann unendlich dankbar von Dir wieder auf den Boden geholt zu werden. Vielen Dank. Heike

  • Wie schön geschrieben, liebe Uta und so wahr! Ich mache mir auch oft zuviele „Was wäre wenn…“ Gedanken und zerfasere mir damit meine eigene Freude. Einmal aber waren wir im Urlaub und ich wollte nach einem langen Tag auf den Beinen unbedingt noch den Kriemhildenstuhl sehen (ein römischer Steinbruch in Bad Dürkheim). Eigentlich waren wir müde, es wurde langsam dämmrig und Regenwolken zogen auf, zudem wussten wir nicht wirklich, wo der Wanderweg dahin langführt aber ich wollte unbedingt noch dahin, hatte mich total darauf gefreut. Letztlich haben wir den Steinbruch gefunden (mussten vorher elend steil den Berg hoch durch den Wald), ich war begeistert, habe mich bei meiner Familie bedankt, dass sie mir das noch ermöglicht haben nach so einem Tag und was soll ich sagen, das steckte an. Wir haben uns letztlich alle gefreut, waren hinterher noch platter aber glücklich und obwohl wir zum Schluss klatschnass und im Dunkeln erst wieder am Auto waren, war es eins der schönsten Erlebnisse dieses Urlaubs, einfach weil wir gemeinsam eine Freude erlebt hatten und ich mir KEINE Gedanken mehr gemacht hatte, was die andern wollen, brauchen, wünschen sondern endlich mal das getan habe, was ICH gern wollte. Ich zehre heute noch davon, obwohl es jetzt kein superaußergewöhnliches Weltwunder war, was wir uns angeschaut haben.
    Liebe Grüße
    Dana

  • Liebe Uta!
    DANKE für diesen Artikel! Ich lese schon länger immer mal wieder hier und nehme dabei so viel mit.
    Obwohl (oder gerade weil) ich selbst Lehrerin bin, hatte ich mir im Vorfeld eigentlich wenig Gedanken über die Erziehung meiner Kinder gemacht. Ich war mir sicher, was mir wichtig ist und würde das schon so umsetzen können. Tja,unser Sohn (jetzt 5) ist eines dieser gefühlsstarken Kinder und es hat nichts einfach so nur funktioniert. Alles war schwierig und anstrengend mit ihm. Zudem war er das erste Baby seit langem im familiären Umfeld, so dass zu viele gut gemeinte Ratschläge auf uns einprasselten. Ich fing, als er so ein dreiviertel Jahr alt war, an, mich mit den Ansätzen der Bedürfnisorientierung auseinander zu setzen und fand was ich las wundervoll. Das wollte ich für mein Kind. Als seine Schwester (jetzt 3) geboren wurde, fiel es mir sehr schwer die Balance zu finden, was ich ihm zumuten kann und wo ich Rücksicht auf ihn nehmen muss (auch weil die Tochter die ersten drei Monate quasi nonstop geweint hat). Ich bekam ein schlechtes Gewissen und habe mich beide aufgerieben. Trotzdem musste die Tochter schon viel früher mal kurz warten und hatte nicht nur die ungeteilte Aufmerksamkeit und das tat ihr so gut. Im Laufe der Zeit wurde auch mir klar, dass ich nicht mehr über die Babyzeit hinaus bedürfnisorientiert erziehen kann und will. Doch mir ist die Leichtigkeit abhanden gekommen, die Führungsrolle als Mutter einfach so umzusetzen. Zumal dann noch ein gewisser Druck von außen entstanden ist, die Kinder (besonders den Großen), doch endlich mal in den Griff zu bekommen. Im Nachhinein betrachtet, habe ich die ganze Zeit viel zu viel Rücksicht auf den Sohn genommen und es ist sehr schwer, das jetzt wieder „auszugleichen“. Ja, es ist vieles sehr anstrengend mit ihm, aber darauf den Fokus zu legen, wie es in solchen Büchern gemacht wird, ist nicht zielführend.
    Wir sind immer noch dabei einen Weg für uns als Familie zu finden, was oft nicht leicht ist, besonders da seit 6 Wochen nochmal ein kleines Menschlein unsere Familie bereichert und durcheinanderwirbelt. Doch ich übe mich in Gelassenheit und versuche wieder meiner Intuition zu vertrauen. Die sagt mir, ich habe drei ganz tolle Kinder mit ganz unterschiedlichen Gaben. Sie alle wollen einfach nur mit Zeit und Liebe begleitet werden, dann entfalten sich diese von ganz allein.
    Liebe Grüße,
    Irene
    PS: Mich würde brennend interessieren, wie du es geschafft hast, das Ruder herumzureißen. Du schreibst ja auch, dass du zu Anfang viel zu sehr um deine Kinder gekreist bist.

  • Liebe Uta!
    Ich kann dem ersten Teil deines Textes zu 100 Prozent zustimmen. Der zweite Teil aber ist für mich eher ein Bullerbü-Traum. So KÖNNTE es gehen. Aber vermutlich wird es nicht. Dabei wäre es so schön.
    Wenn ich eins gelernt habe, seit ich Mutter bin: Mach keine Pläne, erwarte nichts, es kommt sowieso anders. Das erspart dir Enttäuschung und schlechte Laune. (Erwarten meint: sich etwas ausmalen, wie etwas sein/werden könnte.)
    Wie oft habe ich (Achtung! Outing!) – die ich eher wenig bedürfnisorientiert als intuitiv erziehe, (oder wenn, dann seit Kind No. 3 eher an meinen Bedürfnissen orientiert) – erlebt, dass ich mir etwas überlegt hatte, was ich mit den Kindern unternehmen könnte (heute machen wir eine kleine Radtour, gehen Kastanien sammeln, an den Hafen, basteln was, gehen ins Erdbeerfeld, lassen Drachen steigen, machen einen Kino-Abend) oder auch mal was, das eher Erwachsenen Spaß macht, (zum Beispiel eine Städtereise, sich mit Freunden zum Kochen treffen, eine Wanderung …) und dann artet alles in Chaos aus. Keine Einigung, ewige Diskussionen, Verhandlungen, ich komm nur mit, wenn…
    Aaaah! Chaos, Panik, Fluchtgedanken. Dabei hatte ich es mir wirklich nett vorgestellt und dachte, es müsste den Kindern doch auch Spaß machen. Nö. Wenn ich in die Nörgelgesichter gucke, dann hab ich schon gleich selbst keine Lust mehr. Wenn ich ihnen nachgebe, habe ich schlechte Laune, wenn ich ihnen nicht nachgebe, besteht der Hauch einer Chance, dass sie es doch ganz gut finden. (Dieser Hauch schwindet mit zunehmenden Alter – denn „zwing“ einen 13 Jährigen mal. Pubertierende werden in der Literatur übrigens auch meistens als unzurechnungsfähig dargestellt).
    An vielen Tagen habe ich nicht die Kraft und Energie, gegen ihre geballte Unlust anzugehen. Wozu? Im Zweifel langweilen sie sich zu Hause – oder wenn sie sich nicht langweilen, umso besser.
    Schließlich haben sie es mit mir auch nicht leicht. Ich habe noch jeden ihrer Versuche, mich in ein riesiges Spaßbad zu bekommen, erfolgreich vereitelt. Vielleicht sind wir quitt 😉
    Nach 13,5 Jahren Muttersein beginne ich, meinen Frieden damit zu machen, dass ich besser keine Pläne mehr mache und nichts mehr erwarte. Ich werde immer besser! Ist das ein Grund zum Freuen?! Ich weiß es wirklich nicht.
    LG SteffiFee

  • „Kindheit stand mal für Unbekümmertheit. In aktueller Erziehungsliteratur klingt es eher so, als müssten Erwachsene Kindern helfen, ihre Gefühle zu regulieren und glücklich zu werden. Wo ist nur der schöne Gedanke geblieben, dass wir Großen uns von der Unbekümmertheit etwas abgucken könnten und dass wir wieder mehr werden sollten wie die Kinder.”
    Hier stelle ich mir die Frage: „ Können Kinder in unserer Leistungsgesellschaft noch unbekümmert sein? Müssen sie nicht lernen sich zu regulieren, um darin zu funktionieren?
    Und weiter: „Wie und wann wuchsen denn all diese Erwachsenen heran, die heute so einen großen Bedarf an psychotherapeutischer Beratung brauchen, dass ein neuer Studiengang „Psychotherapie” ins Leben gerufen wird, weil der Bedarf nach Therapien so stark steigt?
    Unbekümmert sein heißt, nicht nur 1er schreiben müssen, nicht immer nur der Beste und Schnellste zu sein, sondern zeitlos herumstrolchen, langweilen, selbstbestimmt seine Zeit einteilen…
    Wann soll das bei KITA-Öffnungszeiten zwischen 07:00-20:00 Uhr, einer ständigen Erreichbarkeit per Handy und dem Konkurrenzdenken und Leistungsanspruch dieser Gesellschaft geschehen?
    Und als hochsensibles oder gefühlsstarkes Kind ist es mit der Unbekümmertheit ziemlich schnell vorbei. Man fällt immer (meist negativ) auf, man fühlt sich anders, man ist schnell überfordert, man mag vieles nicht, was andere mögen oder gut aushalten können (laute Musik, Disco, Party, Schulstress, Druck von außen, Spontaneität, große Gruppen, Ausflüge, Unbekanntes…)
    Man bekommt viele negative Reaktionen von Bezugspersonen, Eltern, Freunden (stell dich nicht so an, bist du aber empfindlich, Spaßverderber…)
    Das fängt als Kleinkind an und endet eigentlich nie. Außer man versteht das Andersein als Situation, wie sie ist und macht was Sinnvolles daraus.
    Einem guten Umgang mit dieser Veranlagung liegt meiner Meinung nach eine offene Kommunikation zugrunde. Nicht nur in dem Sinne, das Leben auszuhalten (alle Eventualitäten einzuplanen), sondern um über die schnelle Überreizung Bescheid zu wissen und Strategien zum Umgang damit zu lernen.
    Dafür muss das Thema besprochen werden. Nicht heraufbeschworen.
    Dazu gehören aber auch vorab Gedanken wie: schafft das Kind die Klassenfahrt ohne durchzudrehen, wie kann ich Ruhezeiten und Alleinsein in seinen Alltag integrieren und es schützen. Wann kann es durch Meditation Ruhe finden? Wie übersteht es Kindergarten und Schule? Wann gibt es Zeitfenster, um in der Natur aufzutanken?
    Ich kenne das Buch von Nora Imlau nicht, bin aber froh, dass Hochsensibilität (gefühlsstarke Kinder) mehr Thema wird und auch Pädagogen Informationen darüber erhalten.
    Es geht nicht unbedingt darum, gegen das Unglücklichsein der Kinder anzukämpfen, sondern darum, ihnen einen adäquaten Umgang in unserem Alltag mit Gefühlen und Hochsensibilität zu ermöglichen. Denn natürlich sind sie laut, überfordert und schnell komplett durch den Wind. Eine gute Selbstregulation mit Hilfe von Bezugspersonen ist da sehr wichtig. Dabei geht es nicht darum, glückliche Kinder aus ihnen zu machen. Aber darum, ihnen zu signalisieren: ich nehme dich an, wie du bist. Ich bin präsent. Du bist ein Teil dieser Familie. Wir erleben Rituale und schöne Momente zusammen. Ich bin für dich da, wenn du Hilfe brauchst. Ich traue dir zu, dich selbst zu regulieren. Ich verstehe deine Reaktionen. Ich liebe dich, wie du bist.
    Und diese bedingungslose Liebe wird vielleicht für ein bisschen Unbekümmertheit sorgen.

  • Ich stimme Dir in vielem zu, Uta, schätze aber auch den „Trend“, Kinder wirklich ernst zu nehmen in ihren Gefühlen. Ich glaube, gesamtgesellschaftlich gibt es in dem Bereich noch groooßen Nachholbedarf. Die Regel ist doch immer eher noch, dass Kinder übergangen werden und die Bedürfnisse von Erwachsenen über deren gestellt werden. Du meinst eine spezielle soziale Bildungsschicht, für die Deine Sichtweise bestimmt sehr hilfreich ist. Und eines noch: klar hat Opa früher fröhlich seinen Ausflug durchgezogen, wahrscheinlich aber auch Ohrfeigen oder anderes strafendes Verhalten ausgeteilt wenn die Kinder Bedürfnisse anmeldeten, das sollten wir nicht ausblenden.

  • Ich habe diesen Blog vor ein paar Wochen entdeckt und finde ihn absolut wertvoll! Zwischen Bedürfnisorientiert und Schwarzer Pädagogik liegt ein sehr weites Feld. Ich war in den 80ern jugendlich und habe in meiner Familie starke Führung erlebt. Dass da und dort über meine Bedürfnisse auch mal hinweggegangen wurde, war in dem Moment sicher schmerzhaft, hat mich aber nicht auf lange Zeit geschädigt. Und körperliche Gewalt habe ich nicht erlebt. Ich arbeite heute in der Pädagogik und erlebe immer wieder, wie gut es Kindern tut, wenn klare Abläufe und Ansagen da sind. Das vermittelt ihnen ein Sicherheitsgefühl: Der Erwachsene weiß, was für mich gut ist und wo es lang geht. Auch ’schwierige‘ Kinder entspannen sich dann oft schneller, als man erwartet hätte. Ich sehe die Bedürfnisorientierung jenseits des Säuglingsalters sehr kritisch und habe oft den Eindruck, dass die geschilderten Probleme hausgemacht sind. Leider darf man sowas aber kaum aussprechen… Ich bin gespannt auf die Themen, die hier in Zukunft bewegt werden! Und danke für die reflektierten Darstellungen.

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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