Noch dreimal schlafen, dann … 

 21/07/2020

4 Strategien gegen kindlichen Zeit-Stress

Nach ein paar Tagen Urlaub an der Mosel und im Schwabenland komme ich erst jetzt dazu, euch für eure Zuschriften zum vorherigen Beitrag „Rettet das freie Spiel!“ zu danken. 

Ich stand unter dem Schock der Zahlen, als ich den Post schrieb. Durch euch habe ich gelernt, dass zwischen gebuchten und tatsächlich genutzten Stunden in der Betreuungseinrichtung ein großer Unterschied klaffen kann und dass Eltern häufig einen Vertrag schließen müssen, der ein sehr viel größeres Zeitfenster beinhaltet, als die Kleinen tatsächlich an Zeit in der Institution verbringen.

Ich hoffe, dass bei allem Ärger mein Plädoyer für das freie Spiel nicht untergegangen ist. Darauf kam es mir an: Kinder brauchen Zeiten des Nichts, der Langeweile, der Freiheit von Terminen, von Zeitdruck und von jedweder Pädagogik. Gebt ihnen Raum, ihr Inneres zu entdecken und daraus zu schöpfen. Einen größeren Schatz gibt es nicht. Und wenn ich in euren Kommentaren lese, dass einige von euch Kitas gefunden habt, die das freie Spiel wirklich fördern, freut mich das sehr. 

Kindern zu ermöglich, in ihr Tun zu versinken, ist mir ein Herzensanliegen. Nichtsdestotrotz müssen wir alle mit Zeit umgehen, müssen wir Kinder manchmal aus dem Spiel reißen, müssen wir mit ihnen irgendwo pünktlich sein oder sie trösten, weil sie eine Zeit lang, ohne uns zurecht kommen müssen. 

Zeit - für Kinder ist das ein graues Nichts. „Ich ziehe aus“, brüllte einst das Nachbarskind, „morgen, wenn nicht schon übermorgen!“ Dieses kraftvolle Statement verdeutlicht, dass Kinder zwar Zeitbegriffe verwenden, aber sie nicht wirklich verstehen. Deshalb sind Aussagen wie „Ich hole dich heute Mittag ab“ oder „In zwei Stunden bin ich ja wieder da“ für die Dreijährige beim Abschied in der Kita wenig hilfreich. Und dieser Zustand, dass sich kleine Menschen unter Minuten, Stunden, Tagen oder Monaten wenig vorstellen können, erstreckt sich bis weit über die Kita-Phase hinaus. Erst zum Ende der Grundschule bilden Kinder einen Zeitbegriff, der dem der Erwachsenen nahe kommt. 

Aus diesem Grund möchte ich 4 Strategien mit euch teilen, die euch und euren Kindern den Zeit-Stress nehmen können:

  1. Zählstrategien. Wer hier schon länger liest, weiß, dass wir 2017 ein Mädchen aus Afghanistan bei uns aufgenommen hatten, das in Hamburg am Herzen operiert wurde. Etwa drei Wochen vor dem Rückflug kam ich endlich auf die Idee, ein Maßband aus Papier an den Schrank zu hängen, an dem die Siebenjährige jeden Tag einen Zentimeter abschneiden durfte. Es war wie eine Erlösung für sie. Endlich hatte die kleine Afghanin eine Vorstellung, wann sie wieder zu ihren Eltern und Geschwistern zurückfliegen durfte. Das Maßband hat ihr die Zeit des Wartens sehr viel leichter gemacht. Zählstrategien wie „Noch dreimal Schlafen, dann fahren wir in Urlaub.“ wenden Eltern meist automatisch an. Jeder Adventskalender ist eine Konkretisierung von Zeit. Vielleicht denkt ihr aber auch außerhalb der Vorweihnachtszeit daran, für Kinder undefinierbare Phasen anschaulich zu machen. 
  2. Aufbruch ankündigen. Aufbruchssituationen sind häufig stressig. Der Aufbruch vom Spielplatz, das Abholen bei Spielkameraden, das abrupte Ende eines Turmbau-Projekts... Kinder aus dem Flow zu reißen, macht auch den Eltern zu schaffen. Wahrscheinlich gestaltet sich die Situation deshalb so schwierig. Der Einschnitt wird aber etwas sanfter, wenn ich den Aufbruch fünf Minuten vorher ankündige. Und dann statt „Wir gehen in fünf Minuten“ besser sage: „Wir gehen, wenn ich den Kaffee ausgetrunken habe.“ Oder auf dem Spielplatz: „Ich laufe mit der anderen Mama noch dreimal langsam um den Spielplatz, dann fahren wir nach Hause.“ Oder: „Wenn Lasse sein Eis aufgegessen hat, dann ist hier Feierabend.“  oder im Winter. „Wir brechen auf, wenn die Laternen angehen.“ Kündigt es an, macht die Zeitspanne anschaulich und dann marschiert ihr entschieden voran.
  3. Zeiträume konkret machen. Im vorherigen Punkt habe ich das Konkretisieren schon angesprochen. Das ist für Kinder sehr hilfreich. Nicht nur in Aufbruchssituationen, sondern auch beim Abschied in der Kita oder bei der Tagesmutter. Ich sage also nicht: „Ich hole dich heute Mittag wieder ab“, sondern „Ich fahre jetzt zur Arbeit, schreibe an meinem Computer, telefoniere mit Kunden, spreche mit meinem Chef, setze mich dann wieder ins Auto und hole dich ab.“ Hilfreich ist auch, das Kind mal mit zur Arbeit zu nehmen. Dann sieht es, wo ich bin, während es in der Kita ist, lernt meine Kollegen kennen und hat von nun an ein Bild vor Augen, wo die Eltern ihren Tag verbringen. Auf diese Weise helfe ich dem Kind, sich immer mehr die Welt anzueignen. Und je mehr es weiß und sich vorstellen kann, desto leichter fallen Abschiede und Wartezeiten. 
  4. Gemeinsam Pläne schmieden. Sobald sie etwa vier Jahre alt sind, können Kinder gedanklich an einem Plan festhalten, den sie mit den Eltern besprochen haben, selbst wenn die Eltern nicht anwesend sind. Sie wissen: „Mama hat gesagt, wir holen nach ihrer Arbeit Luisa von der Schule ab und fahren dann zusammen zu Oma.“ Ein Vierjähriger hat diese Abmachung im Hintergrund präsent, wenn er mit den Kita-Freunden in der Matschecke spielt. Für jüngere Kinder dagegen ist ein solcher Plan allein schwerer abrufbar. Sobald die Eltern aus ihrem Blickfeld verschwunden sind, haben sie kaum noch präsent, was für spätere Stunden vereinbart wurde. Nichtsdestotrotz würde ich ungewohnte Situationen mit Kindern von klein auf vorher durchsprechen. So nehme ich ihnen den Stress, weil sie wissen, worauf sie sich einstellen können. Und Reisen, Umzüge, Arztbesuche, die erste Schwimmstunde ... verlaufen sehr viel reibungsloser als ohne gemeinsames Durch-Sprechen vorher. In meinem neuen Buch (heute in fünf Wochen erscheint es!) gehe ich ausführlich darauf ein, wann Reden mit Kindern Gold ist und wann ich besser schweige und mit Verhalten führe. 

Schreibt ihr mir, welche Ideen ihr noch habt, um euren Kindern den Umgang mit Zeit zu erleichtern? Es wäre großartig, wenn viele Tipps zusammen kämen. 

Immer fröhlich Kindern mit Zählstrategien helfen, einen Aufbruch vorher ankündigen, Zeiträume möglichst anschaulich erklären und ungewohnte Situationen mit Kindern vorher durchsprechen,

Eure Uta 

Dieser Beitrag ist Werbung für ein Buch, für mein neues Buch! Yippie!

Photo by Meritt Thomas on Unsplash

  • Ich nutze oft auch: Ich schaukele Dich jetzt noch fünf Mal an, bis du ganz hoch schaukelst, dann gehe wieder rüber zu meiner Freundin, um mit ihr zu reden. Das klappt oft ganz gut.

  • Liebe Uta,
    die Zählstrategie haben wir auch während dieser Corona-Zeit bei unserem 9-jährigen Sohn hervorgeholt: herunterzählen bis zum ersten Schultag nach dem Lockdown, Tage bis zum Wochenendausflug, usw. Die Tage durfte er dann jeden Morgen mit Kreide an die Tafel . Das hat ihm aber auch mir in dieser Zeit wahnsinnig geholfen!
    Ganz liebe Grüße von Kerstin

    • Liebe Kerstin, das ist eine gute Idee, um diese Coronar-Zeiten, in denen alles ohne Kontur ineinander überzugehen scheint, zu strukturieren. Danke und herzliche Grüße, Uta

  • Aufbruch auf dem Spielplatz oder bei Freunden bringe ich meistens so rüber: „Jungs, ich räume jetzt alles zusammen, verabschiede mich von XY und dann gehe ich los. Wir treffen uns am Tor!“ Klappt eigentlich immer und sie lernen, dass es auch in ihrer Verantwortung liegt zu gucken, wo ich bin.
    Längere Abstände erkläre ich auch mit noch-x-Mal-schlafen: „Noch 3 mal schlafen und es geht zur Oma.“ Morgens sage ich dann immer an, wie viele Nächte nun noch kommen.
    Mein Ansatz generell und auch um ihnen weiter weg liegende Ereignisse, wie Urlaube, nahe zu bringen, ist folgender: Jeden Abend liegen wir im Bett und lesen ein Buch. Dann erzählen wir auch über den Tag und was wir schön fanden. Dabei erzähle ich dann immer, welche Jahreszeit wir haben, welcher Monat gerade ist, welches Datum, welcher Wochentag. Freitag machen wir nach der Kita immer High-Five-Wochenende. Sonntagabend bereiten wir die Rucksäcke und unsere Taschen für den Montag vor.
    Viele liebe Grüße von Lisa

    • Danke, Lisa, dass du an den Nachfolgewillen erinnert hast! Du kündigst den Aufbruch also an und ziehst dann schon los. Ich finde gut, dass du am Tor wartest und nicht verschwindest. So überträgst du ihnen einen Teil der Verantwortung für den Aufbruch, ohne dass das Gefühl aufkommen könnte, du ließest sie im Stich.
      Magst du uns noch erklären, was ein „High-Five-Wochenende“ ist?
      LG Uta

      • Ja gerne, ist ganz simpel. Wenn ich die Jungs freitags aus der Kita abhole begrüße ich sie, sage: Hi ihr zwei, schön euch zu sehen, jetzt freue ich mich auf Wochenende/Urlaub mit euch und Papa. Und dann machen wir nacheinander miteinander High-Five. Also ein kraftvolles, freudiges Hände-aneinander-klatschen 🙂 Sie wissen, damit ist die Arbeits-/Kitawoche geschafft und wir haben Wochenende/Urlaub miteinander. Und naja, das Mama richtig doll auf die Hand klatschen finden sie auch klasse 🙂

  • Hallo Uta,
    das Ankündigen hatte bei uns eine Zeit lang einen negativen Effekt. Mein Sohn hatte mit 3 Jahren Angst vor allem neuen, unbekannten. Wenn sie dann im Kindergarten (der auch neu war für ihn) irgendeine Aktivität angekündigt haben (Schlittenfahren, Besuch vom Clown, Indianerfest, Gesichter schminken, Rehe füttern, Fotograf,…) war er tagelang angespannt und kratzbürstig und wollte dann an dem Tag nicht in den Kindergarten. Ich habe das bei vielen kleinen Gelegenheiten gar nicht gewusst und hab mich über die Launen meines Sohnes gewundert. Die Kindergartenpädagogin hat das Problem erkannt und vorgeschlagen auf die Ankündigungen zu verzichten. Das hat ihm sehr geholfen.
    Zu den „Tools“:
    Wir haben einen linearen Kalender (https://www.elternvommars.com/2019/01/bei-uns-in-den-letzten-wochen-und-unser.html?m=1) wo ich Kindergartenferien, Geburtstage, Weihnachten usw eintrage. Mein 4jähriger steckt, immer wenn er dran denkt, eine kleine Klammer auf den aktuellen Tag. Er hat ganz oft mit den Fingern am Kalender wiederholt „Da hat die Oma Geburtstag, dann der Papa, dann Theo und zwei Tage vor Weihnachten hab ich Geburtstag!“
    Zusätzlich habe ich noch einen Jahreskreis gebastelt, bei dem er Anfang des Monats eine Klammer umstecken darf. Da freut er sich jedesmal 🙂
    So oft es die Situation erlaubt, halte ich mich an das, was ich von dir und Rita Messmer gelernt hab: kurz vorher ankündigen und dann geh ich einfach. Das funktioniert hervorragend mit beiden Kindern (2 und 4).
    Liebe Grüße aus Oberösterreich
    Judith

    • Liebe Judith, ganz herzlichen Dank für den Link zum Linear-Kalender! Das ist ein Hinweis für mich, mich mehr mit der Montessori-Pädagogik zu befassen, die einfach zeitlos überzeugend ist. Danke auch für deine Erfahrung, dass das Vorher-Durchsprechen nicht für jedes Kind hilfreich ist. Das zeigt wieder einmal, wie sehr wir bei jedem Individuum genau hinschauen müssen. Und das mit der Klammer ist eine sehr schöne Idee. Herzliche Grüße aus Hamburg!

    • Wie schön, dass du dich an sie erinnerst! Wir haben das Ritual, alle paar Monate einen Dolmetscher einzuladen und sie in Kabul anzurufen. Leider hat sie ihr Deutsch fast ganz wieder verloren, deshalb können wir nur mit Hilfe telefonieren. Gesundheitlich geht es ihr auf jeden Fall gut. Seit der OP gilt ihr Herz als gesund. Sie ist deutlich größer geworden und ist eine gute Schülerin. Wir halten auf jeden Fall den Kontakt und hoffen, sie besuchen zu können, wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan eines Tages stabilisiert. LG Uta

  • Liebe Uta, vielen Dank für diesen interessanten Post und ich werde auch gleich den letzten, inklusive Kommentare, noch einmal lesen.
    Meine 4Jährige fragt oft nach der Dauer von Wartezeiten etc. und wenn ich dann sage „5 Minuten / eine halbe Stunde / 3 Stunden / eine Woche“ fragt sie nach, wie lang das denn nun ist. Darauf versuche ich immer ihr eine Referenz aus ihrer Erfahrungswelt zu geben, also z.B „so lange wie eine Folge Peppa Wutz / die Fahrt zur Oma / die Zeit im Kindergarten zwischen Morgenkreis und Mittagessen / von einem Brezen-Montag zum nächsten“.
    Bestimmten Tagen bestimmte Ereignisse zuordnen mögen die Kinder auch (und das hat sich irgendwie von selbst etabliert, dass wir z.B. montags kein Brot schmieren sondern unterwegs eine Breze kaufen, weil wir meist kein Brot mehr haben).
    Ich habe, so wie Judith, auch einen Jahreskreis gemalt, den beide Kinder (3 und 4) wirklich erstaunlich viel nutzen, um z.B. zu gucken wie lang es noch ist bis zum Geburtstag oder Weihnachten.
    Wenn mein Mann auf Geschäftsreise geht, basteln wir sofort nach seiner Abreise eine Kette aus so vielen Papierringen wie er Tage weg sein wird. Jeden Tag schneiden die Kinder dann einen Ring ab.
    Das klingt jetzt ganz schön pädagogisch alles. ? Hat sich tatsächlich alles mehr oder weniger von selbst so ergeben…
    Liebe Grüße Johanna

  • Hallo Uta,
    wenn wir von einem Ort los gehen, dann kündige ich „Noch 10 Minuten“ an. Auf dem Spielplatz reicht es meistens, wenn ich das aus der Ferne mit den Händen anzeige, so dass ich nicht über den Platz plärren muss. Die Kinder geben es sich dann gegenseitig weiter. Dann 5 Minuten mit einer Hand. Nach Ablauf der Zeit gehe ich langsam und Liedchen-pfeifend schon mal los und die Kids kommen (meist klappt es wunderbar) promt nach. Falls ich nach Ablauf dieser Zeit nicht los gehe, dann stehen alle 3 Kinder fragend vor mir. Sie haben es schon gut im Gefühl, wie lange diese Zeit ist. Auch ich bekomme „5 Minuten“ angekündigt (und halte es ein!), wenn ich mich unterhalte und die Kinder auf mich warten.
    Liebe Grüße
    Tina

  • Liebe Uta,
    Bei uns hilft ein schlichter Kalender (früher linear, jetzt ein gekaufter mit Monatsübersicht), um den Kindern eine gewisse Vorstellung von grösseren Zeiträumen zu vermitteln. Jeden Tag rutscht die Klammer ein Stückchen nach unten. Samstag und Sonntag sind bunt, so dass sie sehen können, wann Wochenende ist. Wichtige Sachen (Geburtstage, Ferien, grössere Ausflüge etc.) werden mit Kritzelbildern verdeutlicht. So können die Kinder auch selbst abzählen, wie lange es noch dauert, und sie müssen nicht ständig nachfragen.
    LG, Julia

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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