Sensible Phasen nutzen 

 16/04/2019

Bedürfnisorientierung und biologischer Ansatz – ein Buch-Vergleich

Für diesen Beitrag hatte ich eine Tabelle vorbereitet, in der wichtige Punkte in der Erziehungs-Philosophie der Schweizer Therapeutin Rita Messmer den Überzeugungen von Danielle Graf und Katja Seide vom „Gewünschtesten-Wunschkind“-Blog gegenüber gestellt werden sollten. Schnell hatte ich aus dem Kopf ein paar wichtige Unterschiede aufgelistet und fand mich und die Tabelle ganz prima. Im Zug zurück von München nach Hamburg hatte ich die Eingebung, ich sollte noch einmal genauer nachlesen, was Graf und Seide geschrieben hatten. Denn meine Lektüre ihres Buches lag nun schon zweieinhalb Jahre zurück. Seite um Seite wurde mir klarer, dass ich Gegensätze aufgebaut hatte, wo es gar keine oder nur sehr viel geringere gab, als angenommen. Ich seufzte gegen die ICE-Scheibe, mich beklagend, dass die Welt mal wieder viel komplexer war, als ich es für einen schnellen nächsten Beitrag gebraucht hätte.
Ich besann mich aber. Hatte ich für euch nicht immer schon das Beste aus den Büchern herausgepickt? Deshalb zeige ich hier eine überarbeitete Tabelle, die hoffentlich nicht zu kompliziert geworden ist. (Grundlage: die Bücher „Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Der entspannte Weg durch Trotzphasen“ von Danielle Graf und Katja Seide und „Ihr Baby kann’s! Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit von Kindern fördern“ von Rita Messmer. Die Übersicht erhebt weder Anspruch auf Vollständigkeit noch auf Wissenschaftlichkeit.)

Rita Messmer Danielle Graf/Katja Seide
Bedürfnisorientierung in den ersten 9 Monaten Bedürfnisorientierung weit über das 1. Lebensjahr hinaus
Es gibt einen sogenannten Nachfolgewillen. Dem Kind ist angeboren, dass es die erste Hilflosigkeit und Selbstbezogenheit mehr und mehr überwindet und sich in eine Gemeinschaft einfügen will. Den Begriff „Nachfolgewillen“ hat Messmer begründet, deshalb kommt er hier nicht vor. Graf/Seide gehen aber auch davon aus, dass Kinder mit Erwachsenen kooperieren wollen, allerdings spielt das bei ihnen nicht so eine große Rolle wie bei Messmer oder auch bei Jesper Juul.
Wegen des Nachfolgewillens empfiehlt Messmer nach der bedingungslosen Bedürfnisbefriedigung in den ersten Monaten einzuführen, dass das Baby anfängt, sich allmählich nach den Eltern zu richten, dass es z.B. in der Babyschale vor der Duschtür zu warten lernt, bis Mama zu Ende geduscht hat. Auch hier wird empfohlen, Kindern nicht allen Frust zu ersparen, weil es ihnen sonst schaden würde, wenn sie Bedürfnisaufschub nicht lernen würden; der Zeitpunkt wird jedoch später angesetzt
Es gibt einen Richtungswechsel: sind die Eltern zunächst ganz auf das Kind ausgerichtet, dreht sich die Richtung allmählich; die Eltern gehen voran (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) sie sind präsent, ansprechbar und bei Bedarf immer bereit zum Schmusen, kreisen aber nicht ums Kind; Eltern als Anlaufstelle nicht als Leibgarde Eltern sind in den ersten Jahren von der Tendenz her dem Kind zugewandt.
Messmer zufolge sollten Mamas und Papas nach Möglichkeiten Ausschau halten, in denen das Kind gefahrlos die Verantwortung dafür übernehmen kann, den Anschluss an die Eltern zu halten (z.B. in einem Park, im Supermarkt …) ; erhöht die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein des Kindes, macht Alltag für Eltern leichter Selbstständigkeit ist auch ein Wert, aber ich erinnere keine Stelle, wo die Eltern so bewusst vorangehen und auf das Nachfolgen des Kindes setzen wie bei Messmer. Eltern sind hier eher die „Kümmerer“, die sich nach den Bedürfnissen des Kindes richten und versuchen, ihre eigenen auch nicht ganz untergehen zu lassen. Ständiges Austarieren.
Messmer kennt keine Spezies in der Natur, bei der Mutter- oder Vatertier dem Kind hinterher rennt. Es gibt auch bei Graf/Seide eine Stelle, an der sie davon abraten, den Kindern hinterher zu rennen. Eltern sollten in den ersten 5 bis 6 Jahren nicht Fangen mit ihren Kindern spielen, weil sie ihnen sonst antrainieren, vor ihnen wegzurennen – an Straßen könnte das fatale Folgen haben.
Dem Kind ermöglichen, möglichst viel selbstständig zu tun, es aber nicht dazu drängen. Auch nicht zum Probierlöffel beim Essen nötigen. Dem Kind ermöglichen, möglichst viel selbstständig zu tun, es aber nicht dazu drängen. Wenn Mama nach langem Kita-Tag Kind in die Jacke hilft, dient das dem Stressabbau, keine Gefahr, dass das Kind nicht lernt, die Jacke allein an zu ziehen.
Es kann sein, dass ein Baby weint, obwohl alle Bedürfnisse befriedigt sind (es ist satt, trocken, bei Mama auf dem Arm…) Dann das Baby auch mal weinen lassen. Weinen als Mittel zur Selbstregulation. Als Mama oder Papa in Ruhe dabei bleiben und innerlich signalisieren: Das darf auch mal sein. Eine ähnliche Situation findet sich auch bei Graf/Seide, allerdings wieder bei einem deutlich älteren Kind. Mädchen weint, weil es den Aufbruch morgens zur Schule nicht mag, die Schule allerdings schon. In diesem Fall dabei bleiben und aushalten, dass es eben auch mal schlechte Gefühle gibt.
Nicht strafen. (Es gibt jedoch in „Ihr Baby kann’s“ einzelne Beispiele von „Lernen aus den Folgen“, die leicht ins Strafen abrutschen können.) Nicht strafen.
Nicht schimpfen. Nicht schimpfen.
Ärger oder Wut ruhig zeigen. Authentisch sein. Ärger oder Wut ruhig zeigen. Authentisch sein. Dampfablassen im inneren Monolog oder in einem anderen Raum.
Sensible Phasen* nutzen;
was Teil des angeborenen biologischen Programms ist, lässt sich früh viel leichter lernen als später über rationale Argumente;
z.B. 20 – 30 Minuten nach der Geburt = sensible Phase fürs Stillen wegen starkem Saugreflex ; die ersten drei Monate = Phase für Einstieg ins Windelfrei-Programm, Säugling gibt Signale, dass er ausscheiden will; aufgreifen und nutzen für frühe Sauberkeit und feinfühlige Kommunikation; Start des Krabbelns und Laufens = Phase, um den Nachfolgewillen zu aktivieren; 1. Lebensjahr = Phase, um Bindung zu Personen aufzubauen, die zusätzlich zu den Eltern bei der Betreuung einspringen können
Bei Graf/Seide ist die Autonomie-Phase von etwa 1 – 4 Jahre wichtigstes Thema; Phase wird hier aber nicht als Zeitfenster verstanden, das zu nutzen ist, um bestimmte Sachen leichter zu vermitteln, sondern zur Benennung einer besonderen Entwicklungsstufe.
Einen Zeitraum empfehlen sie jedoch auch im Sinne einer sensiblen Phase: Wenn das Kind gerade laufen kann, es daran gewöhnen, dass es an der Straße an der Hand geht. In dem Alter lernen Kinder so stark wie nie durch Nachahmung. Das kann man nutzen, um ein paar wichtige Verhaltensmaßregeln leicht einzuprägen.
Umgang mit Gefahren so früh wie möglich lernen lassen, weil die Intuition gerade in Gefahrensituationen der später erworbenen Kognition haushoch überlegen ist; z.B. Krabbler nicht von der Treppe wegholen und schimpfen, sondern sich dazu auf die Stufen setzen und ausprobieren lassen; früh auch echte Messer geben Graf/Seide plädieren für Schaffung einer Ja-Umgebung, in der das Kleinkind möglichst gefahrlos Sachen ausprobieren kann, befürworten aber auch den frühen Umgang z.B. mit Messern; dem Kind nicht bloß etwas verbieten, sondern aufzeigen, was es stattdessen tun soll; z.B.statt „Nicht den Saft verschütten!“ – „Halte das Glas gut fest.“
Die Kognition als Problem verkopfter Erwachsener, die nicht mehr verbunden sind mit ihrem Innersten (vor allem in westlichen Industrienationen) Kognition als Lösung, um mit Stress umzugehen: Stressbewältigungsstrategien aus dem kognitiven Teil des Gehirns, diese entwickeln sich erst ab etwa 5 Jahren.
Stress des Kindes durch heute immer unsicherere und gestresstere Eltern; Gegenmittel: sich wieder auf die Biologie besinnen, Wissen über Phasen, und dadurch Sicherheit gewinnen; Mut zur Führung Stress und Wut kommen aus dem Kind selber, weil es bei der Erkundung der Welt Frust erlebt; das scheint heute häufiger zu sein, weil es – im Gegensatz zu früher – nicht mehr von autoritär auftretenden Eltern unterdrückt wird; Gegenmittel: Erwachsene gehen feinfühlig auf die Bedürfnisse des Ki ein und können ihm helfen, seine Gefühle zu regulieren, weil sie ihm Stressbewältigungsstrategien voraus haben; Austarieren der Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen mit der Tendenz, eher auf die der Kinder einzugehen
Mütter sollten ihre Kinder nicht bespaßen, sondern ihren Beschäftigungen nachgehen können, aber – wie bei Jean Liedloff beschrieben- „… jederzeit empfänglich sein für einen Besuch des krabbelnden und kriechenden Abenteurers.“ Mütter und Väter organisieren ihr Leben um das der Kinder herum.
Rita Messmer ist die Pionierin der Windelfrei-Methode in unseren Breiten, deshalb spielt bei ihr die Phase, in der man Babys beibringen kann, Signal zu geben, wenn sie „mal müssen“, eine große Rolle; nach ihrer kleinen Eigenstudie umfasst die sensible Phase dafür die ersten drei Monate; Methode, um früh von Windeln weg zu kommen, und zur Förderung feinfühliger Kommunikation zwischen Mutter und Kind Die Windelfrei-Methode wird auch bei Graf/Seide erwähnt, ist allerdings nur ein Punkt unter vielen beim Thema ‚Probleme beim Wickeln‘.

 

Nachahmung in Frisur und Verhalten – der kleine Junge befindet sich in einem Alter, in dem ein paar Alltagsregeln leicht zu verankern sind: Verhalten im Straßenverkehr, Aufbruchssituationen, Morgen- und Abend-Rituale  … Nutzt diese Phase, um klar vorzuleben, wie euer Familienleben aussehen soll!

Soweit mein persönlicher Buch-Vergleich zwischen einem Werk der Bedürfnisorientierung und einem Ratgeber, der sich von unserer biologischen Prägung leiten lässt.
Nun möchte ich euch noch ganz herzlich danken für eure Tier-Erlebnisse, die ihr zum Beitrag davor beigesteuert habt. Es hat richtig Spaß gemacht, von einem Huhn namens Otto, von Feuerkäfern, Landeinsiedlerkrebsen, einer Katze, die wie ein Hund behandelt wurde, und von Gecko Anton zu lesen.
Prinzessin hat drei Gewinnerinnen je eines Exemplars des Magazins „Landtiere“ aus unserer Salatschüssel gezogen:

  • Dorthe
  • Heidi
  • Martina

Herzlichen Glückwunsch! Bitte mailt mir eure Adressen, dann landet das Heft bald in eurem Briefkasten.
Immer fröhlich die Biologie und echte Bedürfnisse im Blick halten, frohe Ostern!
Eure Uta
PS: *Auch wenn Rita Messmer sensiblen Phasen große Bedeutung beimisst, betont sie jedoch immer wieder, dass es nie zu spät ist, etwas zu lernen. Früh und in der entsprechenden Phase ginge es nur wesentlich leichter, weil es eher biologisch als akademisch abläuft, eher durch Intuition als durch Rationalität. Ich finde, das ist ein wichtiger Aspekt, über den ich gerne mehr gewusst hätte, als unsere Kinder noch nachfolge-willige Küken waren.

  • Liebe Uta,
    vielen Dank für die ganze Mühe mit der Liste. Ich liebe Listen :–) Und dann lese ich plötzlich meinen Namen … toll, ich freu mich, danke an die Glücksfee!
    Ganz liebe Grüße,
    Dorthe

  • Danke für diese wirklich interessante und aufschlussreiche Liste!
    Der Nachfolgewillen-Punkt war für mich persönlich ein innerer Konflikt: Als meine Tochter mit etwa 10-11 Monaten krabbeln lernte, kam es immer wieder vor, dass sie ein paar Meter von mir entfernt zu mir schaute, die Hände ausstreckte und mit Ton und Gestik verlangte, auf den Arm genommen zu werden. Ich bin intuitiv hingegangen, hab sie hoch genommen und zu dem Ort, an dem ich eigentlich beschäftigt war, getragen. Nach einigen solchen Vorfällen wurde ich nachdenklich, ob es nicht besser wäre, zu bleiben, wo ich war, damit sie motiviert würde, zu mir hinzukrabbeln. Sie konnte das ja schließlich, es waren nur ein paar Meter und ich war ja in ihrem Blickfeld und konnte ihr Sicherheit geben. Aber, obwohl ich mir das selber so überlegt hatte und einleuchtend fand, fiel es mir so schwer!! Ich habe es zwar durchaus geschafft, ein bisschen länger zu warten, letztlich bin ich ihr aber immer mindestens entgegen gekommen.
    Ich kann immernoch nicht beurteilen, was der „richtige“ Weg gewesen wäre. Aber ich habe mich dabei ein Stück weit kennengelernt. Ich finde es schwer, zu erziehen, indem ich hart bin. Ich komme mir dabei einfach unglaublich unfreundlich vor. Es fällt mir leichter, anderen entgegen zu gehen, als von ihnen etwas einzufordern. Das ist auch bei Erwachsenen so. Jetzt kann ich mich etwas besser einschätzen und bin auch manchmal froh, dass mein Mann ein etwas anderer Mensch ist und meine Tochter dadurch verschiedene Umgangsversionen kennenlernt.

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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