Ich wollte mich unbedingt strecken und dehnen 

 18/11/2015

Was eine Lehrerin erlebte, die wieder zur Schülerin wurde.

Schon seit längerem habe ich einen Artikel der US-amerikanischen Lehrerin Alexis Wiggins in meiner Schublade. Sie ließ sich zum Lern-Coach ausbilden, um Schüler besser unterstützen zu können. Im Rahmen dieser Fortbildung schlug ihr Direktor ihr vor, mal zwei Tage in die Rolle einer Schülerin zu schlüpfen. So wechselte Alexis Wiggins die Seiten und verbrachte einen Schultag in der zehnten Klasse. Am nächsten Tag durchlief sie das Programm der zwölften Klasse inklusive aller Klausuren und Hausaufgaben.

„Ich konnte nicht glauben, wie müde ich nach dem ersten Tag war. Außer auf dem Weg von und zu den Unterrichtsräumen hatte ich tatsächlich den ganzen Tag nur gesessen. Das vergessen wir als Lehrer, weil wir die meiste Zeit auf den Beinen sind. Wir bewegen uns sehr viel. Doch Schüler bewegen sich praktisch nie. Am Ende des ersten Tages konnte ich nicht aufhören zu gähnen. Ich wollte mich unbedingt strecken und dehnen.“

Alexis Wiggins fiel zudem auf, dass ihre Begleitschüler in acht Schulstunden kaum den Mund aufmachten. Den Großteil des Unterrichts hätten sie damit verbracht, Informationen aufzunehmen. Deshalb fragte sie ihre Begleitschülerin aus der zehnten Klasse, ob sie das Gefühl hätte, einen wichtigen Beitrag zum Unterricht geleistet zu haben. Diese haben nur gelacht und Nein gesagt. Schlagartig wurde Wiggins klar, wie wenig Einfluss Schüler darauf haben, was und wie sie lernen.
Dafür werde ihnen überwiegend das Gefühl vermittelt, dass sie nerven.

„Ich kann nicht mehr sagen, wie oft uns gesagt wurde, ruhig zu sein und zuzuhören. … Darüber hinaus waren die Schüler einigem Sarkasmus ausgesetzt. Mit großem Unbehagen wurde mir bewusst, dass ich selber auch häufig so reagiert habe. Wenn vor einem Test mehrere Schüler nacheinander dieselbe Frage stellten, habe ich jedes Mal übertrieben die Augen verdreht und trocken gesagt: ‚Okay, ich erkläre es jetzt noch einmal …‘. Plötzlich war ich es, die den Test schreiben sollte. Ich war nervös. Ich hatte Fragen. Und wenn die Lehrkraft diese Fragen mit einem Augenrollen beantwortet hätte, hätte ich niemals wieder eine Frage stellen wollen.“

Am Wochenende habe ich den Praktikumsbericht von Prinzessin (14) gegenlesen. Vor den Herbstferien hat sie zwei Wochen lang eine Grundschullehrerin dabei unterstützt, einer kleinen Klasse mit ausländischen Kindern, darunter auch Flüchtlingskinder, Deutsch beizubringen. In ihrer Reflexion am Ende schreibt sie, wie schön es war, dass niemand gelacht hätte, wenn ein Kind einen Fehler gemacht hätte, und dass sie sich das für ihre Schule auch wünschen würde.
„Bei euch wird gelacht, wenn jemand einen Fehler macht?“ –
„Ja, immer wieder.“ –
„Hast du das auch schon erlebt?“ –
„Nein, es sind andere, über die gelacht wird.“ –
„Und die Lehrer schreiten nicht ein?“-
„Nicht wirklich.“

Zurück zu Alexis Wiggins. Der Rollenwechsel hat der erfahrenen Lehrerin die Augen geöffnet. „Ich habe wesentlich mehr Respekt vor Schülern, nachdem ich nur einen Tag lang wieder in ihre Rolle geschlüpft bin. Lehrer arbeiten hart, doch jetzt bin ich der Ansicht, dass fleißige Schüler noch härter arbeiten.“
Aus ihrem Experiment zog sie unter anderem folgende Schlussfolgerungen:

  • Sie wird in Zukunft nach der Hälfte der Unterrichtsstunde eine Dehnungsübung einführen.
  • Sie wird einen Basketballkorb aufhängen und die Schüler auffordern, am Anfang und am Ende jeder Stunde ein paar Minuten zu spielen.
  • Sie wird kurze Lerninhalte anbieten, an die sich umgehend die Überprüfung des Gelernten anschließt.
  • Wenn sie vor der Klasse spricht, wird sie sich eine Eieruhr stellen und nach der vorgegebenen Zeit aufhören zu reden.
  • Sie hat sich vorgenommen, am Anfang jeder Stunde die Klasse aufzufordern, Fragen zum Thema des letzten Tages oder zu ihren Hausaufgaben zu stellen. Dann will sie mit den Schülern gemeinsam auswählen, welche Frage als erstes behandelt wird.
  • Sie will ihr Ziel „keinen Sarkasmus mehr“ den Schülern mitteilen und sie bitten, darauf zu achten, dass sie es einhält.
  • Sie will jeden Test so aufbauen, dass die Schüler am Anfang fünf Minuten Zeit haben, die Aufgabenstellung durchzulesen und Fragen zu stellen.

Immer fröhlich mal die Rolle wechseln!
Eure Uta
PS1: Der Artikel von Alexis Wiggins ist erschienen in „Reader’s Digest“ 9/2015. Den ursprünglichen Text könnt ihr hier lesen.
PS2: Ich bitte euch, in Kommentaren von Lehrer-Schelte abzusehen. Was mich an Schule heute auch schockiert, ist, wie unangemessen und respektlos Eltern Lehrer behandeln. Hier gibt es ein lustiges Beispiel dafür, wie man mit Gewinn für alle Seiten ein angenehmes Lehrer-Gespräch führt.
PS3: Ich danke meiner Schwester Nummer 2, Lehrerin an einer Brennpunkt-Schule, dass sie mir diesen Artikel in die Post gesteckt hat.

Das Titelbild ist von Max Fischer von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    wie spannend und reflektiert. Ein Rollenwechsel mit den Herzbuben lässt sich so nicht praktizieren, aber mehr Achtsamkeit durchaus.
    Donnerstag ist kein guter Tag für Lesungen, Donnerstag ist Yoga-Tag. Aber irgendwann klappt es.
    Liebe Grüße und viel Spaß,
    Frieda

  • … das glaub ich wohl ,dass ein Schultag für Lehrer UND Schüler anstrengend ist. Das fängt nach meiner Erfahrung sogar schon in der 4. Grundschulkalsse an. (Das Auslachen und Angst haben, Fragen zu stellen, schon früher!) Ich kenne ein paar Lehrer/innen, denen ich diesen Post gerne empfehlen würde. Wunderbare Menschen, aber inzwischen – vielleicht auch strukturbedingt? – von der Perspektive der Schüler weit entfernt, wenn man sie so aus Ihrem Schulalltag erzählen hört.
    Liebe Grüße und wieder mal Danke für Denkanstöße
    SteffiFee

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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