Welche Stärke Sadia aus ihrem feinmotorischen Geschick zieht.

„Messer, Schere, Gabel, Licht, sind für kleine Kinder nicht!“ Ich mag diesen Spruch nicht und halte ihn für falsch. Wie soll ein Kind lernen, damit umzugehen, wenn es diese Sachen nicht benutzen darf oder sich abmühen muss mit den zwar bunten, aber stumpfen und nicht funktionalen Varianten von Erwachsenen-Werkzeugen.
Sadia, unser afghanisches Gastkind, zeigt ein – für ihre sieben Jahre – unglaubliches feinmotorisches Geschick. Sie schneidet Zwiebel aus der Hand über der Salatschüssel, hat ihren Rucksack selbst repariert, indem sie einen Bindfaden so lange doppelt gelegt hat, bis er stabil genug war, um das dicke Material zusammen zu halten. An ihrem Schnuppertag in der Vorschule sah ich, wie sie irritiert einen Jungen beobachtete, der kaum eine Banane schälen konnte. Sie hatte am Morgen vorher einen Granatapfel zerteilt, die Kerne aus den Hälften geklopft und in geduldiger Feinarbeit im Wasserbad die Überreste der Fruchtkammern von den Kernen gelöst.
Die Strickliesel (danke Frieda, für dieses Geschenk!) schien ihr bekannt zu sein. Als ich mich damit abmühte, den Wollfaden durch die Holzfrau zu fädeln, verlor Sadia die Geduld mit mir und nahm die Sache selbst in die Hand. In vielen Situationen ist die Körpersprache der kleinen Paschtunin eindeutig: „Geht mal zur Seite, Leute, ich zeige euch, wie man das richtig macht!“
Als sie gestern in einem ihrer T-Shirts einen Flecken entdeckte, ließ sie Wasser ins Waschbecken, seifte den Flecken ein, bürstete den Stoff mit unserer Nagelbürste, schwenkte und wrang das Shirt, sprang vom Hocker und hängte es im Keller auf den Wäscheständer, während ich oben im Flur stand und wartete, bis mir jemand half, den Mund wieder zuzuklappen.

Zwiebelschneiden aus der Hand.

Inzwischen gebe ich ihr unsere schärfsten Messer, im Garten die Kantenschere, bei der Körperpflege das Nagelnecessaire und für den gemütlichen Abend das Gasfeuerzeug für die Kerzen. Ich habe nach und nach gelernt, sie nicht mehr zu unterschätzen. Denn das macht sie wütend. Ihr glaubt nicht, welches Stimmvolumen in diesem kleinen Mädchen steckt. Wenn wir gar nicht kapieren, wie etwas zu laufen hat, wird sie laut. So laut, dass unsere Nachbarn meinten, sie hätten auch schon gehört, wie gut es ihr wieder ginge.
Sadias Geschick rührt sicherlich daher, dass sie als eines von acht Geschwistern zu Hause viel mithelfen muss. Inwieweit sie dabei noch Kind sein kann, vermag ich nicht zu beurteilen. Ich sehe aber, dass ihre Fähigkeiten hier ein großer Trost für sie sind. Es tut ihr sichtlich gut, sich einzubringen. Wenn sie etwas mithelfen darf, singt sie die ganze Zeit. Ihr große Selbstwirksamkeit gibt ihr Kraft für die Zeit in der Fremde und für die riesige Anpassungsleistung, die sie zu vollbringen hat.
Die Erkenntnis daraus:

  • Lasst eure Kinder von klein auf helfen, auch wenn es anfangs mühsam ist. Es zahlt sich aus für ihre Feinmotorik und ihr Selbstbewusstsein.
  • Begleitet sie im Umgang mit scharfen Messern, Scheren und anderen Werkzeugen, die man von Kindern gerne fern hält.
  • Ein Großteil des Kinderspiels besteht in der Nachahmung und Erprobung erwachsenen Verhaltens. Wenn wir sie hauptsächlich in „Kinderreservaten“ (Kitas, Schule, Kinderbetreuung in Geschäften und Hotels …) halten, statt mit uns zusammen zu sein und zusammen etwas arbeiten zu können, nehmen wir ihnen wichtige Möglichkeiten zur Weiterentwicklung.
  • Nehmt euch Zeit dafür. Ich finde es gerade sehr beglückend, was man mit einem Kind erleben kann, wenn man sich mal ohne Termine durch einen Tag treiben lassen kann: Hier etwas werkeln, dort etwas kochen, auf der Terrasse einen Tee trinken und in Büchern blättern, Fotos machen, den Gartenweg fegen …

Immer fröhlich die Kinder was schaffen lassen!
Eure Uta
PS1: Ich danke euch ganz herzlich für die große Anerkennung für unser „Herzbrücke“-Projekt und möchte euch um Verständnis dafür bitten, dass ich im Moment nicht dazu komme, auf eure lieben Kommentare zu antworten. Ich freue mich auf jeden Fall sehr darüber.
PS2: Sadia liebt es abends im Bett, noch in Pixi-Büchern zu blättern. Hat jemand von euch vielleicht Pixi-Bücher, die nicht mehr gebraucht werden?

  • Liebe Uta,
    Schon lange bin ich stille und sehr begeisterte Leserin deines Blogs. Eure Entscheidung Sadia für die Zeit der medizinischen Behandlung bei euch aufzunehmen finde ich toll. Und wie stark und tapfer diese kleine Person ist!
    Ich habe jede Menge Pixiebücher an denen sie sicher Gefallen findet. Lass mich bitte wissen auf welchem Weg die Bücher zu euch gelangen können.
    Herzliche Grüße aus Oberfranken
    Barbara

  • Liebe Uta,
    Ich bewundere sehr, wie ihr die komplizierte Situation mit Sadia meistert!
    Ich finde es auch sehr wichtig, den Kindern schon früh den Umgang mit potenziell gefährlichen Gegenständen beizubringen. Es ist mir lieber, sie tun das unter meiner Anleitung, auch wenn sie sich dabei mal in den Finger schneiden, aber größere Verletzungen kann ich so vermeiden. Ich kann nämlich nicht garantieren, dass ich immer in jeder Situation jedes scharfe Messer wirklich außer Reichweite neugieriger Kinderhände weggeräumt habe, da ist es mir viel lieber, sie wissen damit umzugehen. Und die Kindervarianten taugen meist wenig, das führt nur zu Frust.
    Liebe Grüße Julia

  • Liebe Uta,
    als Kinderärztin habe ich in einer kleinen Klinik auch über viele Monate einen Jungen aus Afrika betreut, der die ganze Zeit gelangweilt im Klinikzimmer vor sich hin lebte (ohne Kontakt zur Familie oder Muttersprache!!!). Zwar sprach er schnell gutes Deutsch, doch emotional und kognitiv waren die negativen Auswirkungen nicht zu übersehen…. herzzerreißend! Ich bin von eurem Projekt wirklich angetan und freue mich riesig, dass Sadia somit eine möglichst geringe Traumatisierung erfährt, bei deren Verarbeitung ihr bereits eine wundervolle Unterstützung seid!
    Ich hätte auch einige Pixis, die meine Kinder gerne spenden…..
    Herzliche Grüße!

    • Liebe Saphira, vielen Dank für die Rückmeldung! Ja, ich glaube, die Einbindung in Gastfamilien ist eine gute Sache. Und vielen Dank, dass ihr Sadia Pixis schenken mögt. Die Adresse findet ihr unter „Kontakte“. Viele Grüße und alles Gute für deine Arbeit! Uta

  • Liebe Uta,
    ich bin schon lange stille Mitleserin und finde deinen Blog sehr inspirierend. Ich habe drei Kinder (6,4, 5 Monate) und unendlich viele Pixi-Bücher, von denen wir gern welche verschenken. Braucht ihr noch welche? Dann würde ich schnell ein Päkchen auf den Weg bringen.
    Danke fürs Teilhaben lassen.
    Madeleine

  • Liebe Uta,
    auch hier die gleiche Frage, braucht ihr noch Pixi-Bücher. Wir schicken euch gerne ein kleines Päckchen.
    Liebe Grüße und ihr macht das so toll und achtsam,
    Mo

    • Liebe Mo, ganz herzlichen Dank für das liebe Angebot! Tatsächlich haben wir jetzt eine stattliche Pixibuchsammlung. Die Hefte reichen jetzt auch noch für die 7 Geschwister daheim. Wie kriegen wir in ein paar Wochen bloß alles in den Koffer? ?
      Ganz herzlichen Dank an alle fürs Schreiben und Spenden und für die Bereitschaft dazu! Herzlichst, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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