Kinder brauchen keine Autonomie-Übungen 

 28/10/2016

In diesem Moment schiebt Kronprinz (19) Nachtschicht auf dem Flughafen von Vancouver, Prinzessin (15) sitzt mit zwei Freunden im Zug nach Schwerin. Um 5:30 Uhr ist sie aufgestanden und hat sich Frühstück gemacht. „Warum gerade Schwerin?“ – „Schwerin kennen wir noch nicht.“ – „Wann kommt ihr zurück?“ – Heute Abend. Ich schreibe dir zwischendurch.“
Meine Kinder sind selbstständig.
Wie sind sie das geworden bei einer Mutter, die auch dem Grundschulkind – bei Bedarf – noch in den Schneeanzug geholfen hat?
Bei einem Vater, der es sich nicht nehmen ließ, sie morgens an der Hand bis vor ihr Klassenzimmer zu bringen?
Bei Eltern, die auch ihre Schulkinder gelegentlich noch in ihrem Bett schlafen ließen?
Ich weiß gar nicht, ob ich das beantworten kann. Ich weiß nur, dass Eltern und Erzieherinnen sich zu häufig in dieses Selbstständigkeits-Ding verbeißen.
Eine Mutter berichtete mir neulich, dass ihre Tochter seit den Sommerferien zu den ältesten Kindern in der Kita gehört. Seither heißt es häufig: „Mila, du kannst dir jetzt allein den Regenanzug anziehen. Schließlich bist du ja in der Löwengruppe.“
Ja, sicher kann Mila das allein. Kein Zweifel. Vielleicht braucht sie an manchem Tagen aber einfach ein bisschen Nähe und Unterstützung.
Eine andere Mutter machte diese Erfahrung mit ihren Adoptiv-Zwillingen. Jeden Morgen gab es Stress, weil sich die Mädchen nicht für die Schule fertig machen wollten. Dabei waren sie schon sechs Jahre alt und hätten es locker gekonnt. Schließlich bekam die Mutter den Tipp, dass die beiden vielleicht ein bisschen Nähe bräuchten. So nahm sie jedes Mädchen eine Weile auf den Schoß und half ihm beim Anziehen. Ein paar Tage ging das so (und war sicher sehr anstrengend), aber dann verschwand das Phänomen so plötzlich wieder, wie es aufgetaucht war.
Joanna von Liebesbotschaft schrieb einmal, dass ihre zweite Tochter als Kleinkind partout nicht laufen wollte. Joanna aber machte sich keinen Kopf (zumindest nicht zu sehr), besorgte sich einen Bollerwagen und zog das Kind durch die Gegend. Wie man auf dem Blog sehen kann, hat die Zeit im Bollerwagen der Selbstständigkeit von Noelle keinen Abbruch getan. Offenbar ohne Probleme fand sie sich später auf einer Schule im Ausland zurecht und auf Fotos sieht man sie heute als kühne Surferin.
Der kanadische Psychologe Gordon Neufeld behauptet, dass das sogenannte „Lernparadigma“ bei der jetzigen Elterngeneration die gesamte Beziehung zu Kindern überschatte. „Kinder sollen dauernd zum Lernen und Selbstständigwerden angetrieben werden. Dabei zeigen entwicklungspsychologische Studien, dass die kindliche Abhängigkeit eine essenzielle Phase ist, auf die man eingehen muss, statt sie wegzutrainieren. Nur wer sich fallen lassen durfte, kann später selbstständig und selbstbewusst vorwärtsgehen.“ (aus einem Interview mit Gordon Neufeld in „Die Welt“, 12.10.1016, Seite 20)
Und wer sich fallen lassen darf, der kann auftanken und wieder ein unerschrockener Welteroberer sein. Der wird schneller in seine Matschhose schlüpfen als ein Erwachsener gucken kann (vielleicht hängt die Hose auf Halbmast, aber das ist ja auch egal). Kinder kommen mit einem eingebauten Entwicklungsmotor auf die Welt. Sie wollen alles ausprobieren und alleine machen. Nie werde ich vergessen, wie vehement mein fünfjähriger Neffe aufstampfte und verkündete: „Alleine kann er’s!“, wenn ihm jemand Hilfe aufdrängte beim Anziehen einer Jacke oder Binden eines Schuhes.
Kinder brauchen weder Autonomieübungen noch Druck oder Antreiber, um selbstständig zu werden. Sie brauchen Erwachsene, die sich die Mühe machen, ihre Signale zu deuten.
Noch einmal Gordon Neufeld:

„Autonomie und Unabhängigkeit sind … das Ergebnis von sicheren, erfüllenden Bindungen.“
„Das Kind muss sich eingeladen fühlen, in unserer Gegenwart zu sein – durch die Wärme unserer Stimme, durch das Aufleuchten unserer Augen, unsere spürbare Freude an ihm.“
„Das ist eher eine Haltung als ein Set an Verhaltensweisen.“

Was für mich daraus folgt:

  • Sich Zeit nehmen. Auf die Signale meines Kindes kann ich nur einfühlsam reagieren, wenn ich selbst nicht gestresst bin und genug Muße habe, ganz auf mein Kind einzugehen. Mal zieht sich das Kind allein an, mal nicht. So what! Bloß nicht denken, man müsse immer darauf bestehen. Und klar kann man auch mal sagen, dass man da jetzt keine Zeit oder Lust zu hat.
  • Apropos: Sich Zeit nehmen für die Kinder. Die Deutschen leben heutzutage etwa 40 Jahre länger als ihre Vorfahren zu Zeiten des Kaiserreiches unter Bismarck (Hamburger Abendblatt, 28.10.2016, Seite 3). Könnte man diese geschenkte Zeit nicht für seine Kinder nutzen? Wenn  Eltern zwei Kinder in Abstand von zwei Jahren bekommen und sie in deren ersten, so wichtigen sechs Jahren beruflich kürzer treten, nimmt diese Phase bei der aktuellen Lebenserwartung von Männern und Frauen (etwa 80 Jahre) nur ein Zehntel ihrer Lebenszeit ein.
  • Diese Zeit ist eine tolle Investition in die Kinder. So vieles wird später leichter gehen, wenn unsere Bindung zu ihnen ein stabiles Fundament hat.
  • Nicht sagen „Das kannst du noch nicht!“, wenn Kinder etwas allein tun wollen. Lasst sie auf Bäume klettern, auf Mauern balancieren, Zäune überwinden, früh Messer und Schere benutzen. Eine zu große Ängstlichkeit der Eltern macht sie unsicher und unselbstständig. Und das ist unter dem Strich viel gefährlicher, als wenn sie sich als Kind mal das Knie aufschlagen oder sich schneiden.
  • Wenn Kinder sich Alltagsaufgaben verweigern, kann das folgende Gründe haben:
    • sie sehnen sich nach Nähe und Unterstützung
    • sie wollen für ein paar Minuten wieder Baby sein
    • ihnen ist warm genug und sie ärgern sich, wenn Erwachsene ihnen nicht zutrauen, ihre eigenen körperlichen Signale richtig zu deuten
    • sie haben keine Lust zu der Unternehmung, die aus dem An- oder Ausziehen folgt

     

Immer fröhlich sich Zeit nehmen und die Kinder liebevoll begleiten. Dann haben sie die besten Chancen für eine gesunde Form von Selbstständigkeit.
Eure Uta

  • Liebe Uta,
    danke für diesen Post! Werde ich vielleicht mal beim nächsten „Als Lerngruppen-Kind muss sie das können. Schließlich geht sie ja nächstes Jahr zur Schule“ einbringen.
    Ich mag deine Listen mit konkreten Punkten übrigens sehr gern!
    Liebe Grüße,
    Dorthe

  • Du triffst es mal wieder genau. Ja, wir Eltern verbeißen uns zu oft in dieses „Selbständigkeits-Ding“, vor allem wenn andere uns dabei zugucken. Beim Abholen im Kindergarten oder beim Abschied von der Oma etwa. Und das Kind will in dem Moment tatsächlich nur ein wenig Nähe, auch wenn es schon Vorschulkind ist. Danke für diese erleichternde Perspektive. Liebe Grüße, Christina

  • Auch von mir vielen Dank für diesen Post! Ich habe es (z.T. auch durch andere Blogs) geschafft, bei diesem Selbstständigkeitsthema ziemlich entspannt zu bleiben und ziehe meinem 4jährigen jeden Morgen zu Hause die Kleider und im Kindergarten die Hausschuhe an. Das Wissen, dass er es selbst kann, genügt mir. Aber wie das so ist, meldet sich ganz ab und zu ganz hinten im Kopf dann doch eine Stimme, ob ich ihn nicht öfter zumindest darum bitten sollte, es selbst zu tun? Manchmal tue ich das, er zeigt manchmal auch den guten Willen und bittet dann doch mich ihn anzuziehen.
    Ich glaube er braucht diese Aufmerksamkeit einfach (und schneller geht es oft ja auch ;)). Mich irritiert das immer, wenn Eltern mit den Händen in den Taschen im Kita-Flur stehen und ihr Kind anhalten doch jetzt endlich mal die Schuhe zu wechseln. Für mich ist das wie die Vorbereitung auf die neoliberale Welt. Und ich finde, die kommt noch früh genug.

  • Ein sehr schöner Beitrag, gefällt mir!
    Ich finde es immer erstaunlich, wie viel Selbstständigkeit von Kindern eingefordert werden kann.
    Ich kann mir auch selbst einen Tee kochen und trotzdem bin ich dankbar und geniesse die liebe Geste, wenn mein Mann das für mich tut.
    Und so halte ich es mit meinem Kind. Nicht immer und ständig und alles, aber immer wieder gern, wenn es nötig ist.
    Liebe Grüße,
    Missy

  • Ich KANN auch mein Auto selber durch die Waschanlage cruisen. Aber ich mag es nunmal, wenn mein Lieblingsmann das für mich tut.
    Meine 22jährige KANN locker morgens vor ihrem laaaaangen Arbeits-Donnerstag früher aufstehen u ihren Smoothie selber pürieren. Aber sie liebt es, wenn sie ihn von mir überreicht bekommt, damit sie den Tag besser übersteht.
    Ist das jetzt echt bei Erwachsenen ein anderes Phänomen?
    Warum sollten wir Kindern solche kleinen, alltäglichen Liebesbeweise nicht zugestehen? Weil sie lernen sollen, selber klar zu kommen? Nicht im Ernst, oder???
    Die kommen schon klar, wenn sie sich geliebt fühlen.
    Denkt sich
    Das LandEi

  • Hallo Uta,
    Du schreibst „Könnte man diese geschenkte Zeit nicht für seine Kinder nutzen? Wenn Eltern zwei Kinder in Abstand von zwei Jahren bekommen und sie in deren ersten, so wichtigen sechs Jahren beruflich kürzer treten, nimmt diese Phase bei der aktuellen Lebenserwartung von Männern und Frauen (etwa 80 Jahre) nur ein Zehntel ihrer Lebenszeit ein.“
    Nunja, die Frauen, die ich kenne, die das gemacht haben, haben danach beruflich keinen Fuss mehr auf den Boden bekommen und schlagen sich mit Hilfsjobs oder HartzV durch oder werden nach langer Arbeitslosigkeit nun zu Altenpflegerinnen umgeschult. Meist verschwindet dann noch der Mann und man krebst am Existenzminimum herum. Und dann haben wir noch nicht über Altersarmut nachgedacht. In den meisten Berufen geht maximal ein Kind und sehr frühes wiedereinsteigen um nicht ausgemustert zu werden.
    Durch das neue Unterhaltsrecht nach Scheidung gehen sehr viele Mütter sehr früh wieder in den Beruf und die Kinder werden hin und hergeschoben oder verlieren nach 10 AuPairs jegliche Hoffnung auf feste Bindung.
    Du hast 100% Recht mit Deinem Vorschlag. Aber meiner Tochter würde ich davon abraten. Meine Kollegin (und in meine Beruf sind wir mit günstigen Arbeitszeiten gesegnet) meinte mal zu mir (nach ihrer Scheidung), dass man sich als Mutter zwischen dem Wohl der Kinder und dem eigenen Wohl entscheiden muss. Aber das ist kein Coaching-Problem sondern ein politisches.
    Liebe Grüße
    Coreli

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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