Lieber Eltern sein als Therapeuten 

 20/03/2023

Warum Kinder das Recht auf ihr eigenes Gefühls-Management haben

Mein Osteopath hat mir von einem befreundeten Elternpaar erzählt, das erst mit seiner fünfjährigen Tochter sprechen wollte, ehe es entscheidet, ob sich die Familie mit der Familie des Osteopathen treffen könne. Es verstrichen einige Tage. Dann war klar: das Mädchen hatte nach längeren Gesprächen ‚nein‘ gesagt. Zum Bedauern der Erwachsenen, denn diese würden gerne die Freundschaft pflegen. Auch die drei Kinder des Osteopathen waren enttäuscht. 

Ich lag bäuchlings auf Herrn Wortmanns* Liege, das Gesicht nach unten im Loch des Kopfteils und seufzte Richtung Holz-Laminat. Während der Osteopath enormen Druck auf die Faszien in meiner rechten Schulter ausübte, sinnierte er darüber, dass Kinder zwar gleich viel Wert seien wie Erwachsene, aber nicht auf einer Ebene stünden. Das hätte er bei Jesper Juul gelesen, dessen Schriften er sich kundig zeigte. 

Mir wurde erlaubt, mich wieder auf eine Ebene mit Herrn Wortmann zu begeben, und mit zerknautschtem Gesicht, aber klarem Verstand, beschloss ich, diesen Blog-Post zu schreiben.

Gebildete Eltern mit psychologischen Kenntnissen

In meinen Coachings begegnen mir sehr gebildete Eltern. Sie machen sich nicht nur viele Gedanken über ihre Kinder, sondern bringen auch psychologische Kenntnisse mit. „In letzter Zeit hätte Ella intensive emotionale Begleitung gebraucht“, berichtet mir eine Mama. Eine andere erwähnt das „Innere Kind“, mit dem sie sich auseinander gesetzt habe. Ein Papa ist sich sicher, sein Sohn sei „gefühlsstark“, eine Mutter bezeichnet sich als „hochsensibel“ und meint, das habe sie an ihre Zwillinge vererbt. Wenn ich mit jemandem über eine bevorstehende Einschulung oder eine erste Zugreise des Kindes spreche, ist mehr von „Übergängen“, die begleitet sein wollen, die Rede als vom Ereignis selbst und der prickelnden Vorfreude, die es auslösen könnte. Manche Eltern fürchten stellvertretend für ihr Kind die Geburtstagsparty bei der wilden Pia, ehe sie überhaupt stattgefunden hat

Auch ich habe die Bücher gelesen, in denen all diese Begriffe vorkommen. Und ich habe wertvolle Erkenntnisse daraus gewonnen. Erst neulich strömten mir im Auto Tränen übers Gesicht, weil ich auf einer längeren Fahrt einen Podcast hörte und ich eine Erkenntnis über mein „Inneres Kind“ hatte. 

Jeder Mensch bringt Verletzungen aus seiner Kindheit mit. Es geht gar nicht ohne. (Damit meine ich keine schlimmen Übergriffe!)  Wenn wir keine Verletzungen hätten, müssten wir welche erfinden, um daran Heilung zu üben und uns als Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Aber Achtung! Wenn ich als Eltern antrete, um jede auch nur vorstellbare Zumutung von meinem Kind fern zu halten, tappe ich in eine Falle. Es ist die Falle des übertriebenen Psychologisierens und der schädlichen Idee, man könnte als Eltern alles richtig machen. 

Auch ein Titel wie „Das Buch, von dem du dir wünschtest, deine Eltern hätten es gelesen“ (von Philippa Perry) suggeriert, wenn Mutter und Vater das nur gelesen hätten, dann hätten sie sich anders verhalten oder hätten keine Fehler gemacht. Dass dieses Buch ein Bestseller geworden ist, zeigt auch, wie viele Menschen der Idee anhängen, ihre Eltern hätten sich anders verhalten sollen. Können sie sich wirklich sicher sein?

Warum ist das übertriebene Psychologisieren eine Falle? 

Zwei wichtige Gründe fallen mir ein: 

1. Wenn ich von der Mama zur Therapeutin werde, wo bleibt dann die Mama? Wo ist die - in den meisten Fällen - wichtigste Frau im Leben eines Kindes? Ein echter Mensch mit all seinen Höhen und Tiefen statt einer Therapeutin, die vermeintlich hilft, mich zu ergründen und damit irgendwie über mir steht.

2. Wenn ich von der Mama zur Therapeutin werde, bleibt für das Kind nur die Rolle des Patienten oder Klienten. Möchte ich diese Festlegung? Wird diese Rolle das Kind stärken? Sicher nicht. Möglich ist, dass es an seinen Problemen eisern festhält, um Mama weiter zu ermöglichen, als Therapeutin zu wirken und sich gut zu fühlen. So sind Kinder. Sie wollen auf unbewusste Weise immer, dass wir glücklich sind. Sie selbst kommen damit in eine schwache Position, halten daran fest, dass sie Probleme haben oder irgendetwas mit ihnen nicht stimmt. 

Die Schwäche des "Innere-Kind"-Modells

Zum Thema „Inneres Kind“ habe ich einen Podcast der Coaching-Firma „Grüne Wiese“ gehört. Die Trainer Patrizia und Stefan finden den Ansatz wertvoll, aber erweiterungsbedürftig. Wenn ich an der Vorstellung festhalte, ich trüge in mir eine heilige Version von mir selbst - auch noch schutzbedürftig und verletzlich in Gestalt eines Kindes -, kann das Gefühl sich festigen, der Vergangenheit nicht entrinnen zu können. Dann habe ich immer schnell einen Grund zur Hand, warum mir dieses nicht gelingt oder mich jenes überfordert. Dann kann ich schnell eine Opfer-Mentalität entwickeln, statt wirklich in meine Kraft zu kommen und fröhlich auszuschwingen. Sie machten die Erfahrung, so Coach Patrizia Voigtländer, dass Teilnehmer, die Innere-Kind-Arbeit gemacht hätten, "eher in einer begrenzenden Selbstwahrnehmung hängen blieben". 

Zusammenfassung

  • Nicht zu Therapeuten werden, sondern Eltern sein und bleiben.
  • Dem Kind zutrauen, auch mit schwierigen Situationen zurecht zu kommen.
  • Nicht vorschnell ein Etikett ans Kind kleben: „gefühlsstark“, „hochsensibel“, „ADHS“ …
  • Dem Kind nah sein, aber nicht glauben, seine Emotionen managen zu müssen.
  • Die Angst ablegen, man könnte das "Innere Kind" des Kindes verletzen.
  • Sich klar machen: Irritierende oder verletzende Ereignisse in der Kindheit lassen sich nicht vermeiden.

Über eure Gedanken zu diesem Thema würde ich mich freuen.

Immer fröhlich bleiben,

Eure Uta 

Auf Anregung meiner lieben Leserin Marie verlinke ich hier drei sehr unterschiedliche Beiträge, die konkret zeigen, wie Nähe geht, ohne zur Therapeutin zu werden.

https://www.wer-ist-eigentlich-dran-mit-katzenklo.de/zickologie/

https://www.wer-ist-eigentlich-dran-mit-katzenklo.de/eine-gute-beziehung/

https://www.wer-ist-eigentlich-dran-mit-katzenklo.de/zaertlichkeit/

Titelbild von Elina Fairytale, Beitragsbild von Pixabay, beide von Pexels. Vielen Dank!

* Name geändert

  • Beim Eingangsbeispiel bin ich erschrocken, was das Kind hier aufgeladen bekommt. Es wird auf eine Erwachsenenebene gezogen. Mir hat die Beschreibung von J. Juul mit der „Gleichwürdigkeit“ sehr eingeleuchtet.

  • Liebe Uta,
    Deine vergangenen Artikel haben so oft so schön beschrieben, wie es anders gehen kann. Das kommt hier etwas zu kurz. Vielleicht kannst du ein paar Beispiel-Artikel von dir im Text verlinken.

    Ich war selbst in der psychologisierenden Elternrolle gefangen. Attachment parenting. Wollte alles richtig machen. Dein Blog hat meine Sichtweise nachhaltig beeinflusst. Rechtzeitig. Ich bin so froh darüber! Danke!
    Liebe Grüße
    Marie

    • Liebe Marie, ich danke dir für diese Riesen-Anerkennung, die mich sehr freut. Und ich habe drei ältere und sehr unterschiedliche Beiträge am Ende des Posts eingefügt, die es vielleicht für alle konkreter machen. Danke für den Hinweis! Herzliche Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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