Künstliches Heraushalten hilft nicht bei Geschwisterstreit 

 11/01/2022

Kinder werden stark, wenn sie sich als wirklich verantwortlich erleben dürfen

Meine Leserin Charlotte hat mir eine Frage geschickt, die ich hier gerne aufgreifen möchte:

Liebe Uta,

ich bin gerade auf deinen interessanten Artikel „Das Hauen zwischen kleinen Geschwistern“ gestoßen, der mich aktuell sehr anspricht. Meine Töchter sind schon sechs und neun Jahre alt. Aber immer wieder enden Streits in absichtlichen Fußtritten, Schubsen oder Hauen. Vor allem die Große kann sich oft nicht kontrollieren, wenn sie von der Kleinen genervt ist. Die Kleine „nervt“ dabei oft ganz bewusst. Ein Abnabelungsprozess?

Ich sehe ganz klar, dass diese Situationen gehäuft vorkommen, wenn ich selbst ziemlich am Anschlag bin und wenig Aufmerksamkeit für jede Einzelne habe (ich lebe getrennt erziehend und versuche, meine Kinderwoche möglichst schön mit den Kinder zu nutzen, habe aber nebenbei doch viele Verpflichtungen).

Ich versuche, mich bei Streit wenig einzumischen und manchmal scheint ein „Clash“ nötig, um kurz darauf friedlich miteinander Lego zu spielen. Doch wenn sie sich hauen oder treten, muss ich doch dazwischen gehen, oder? 

Neutraler Ärger

Ich versuche, mich nicht auf die Diskussion „Sie hat angefangen“ einzulassen, finde es aber sehr schwierig, richtig zu reagieren. Ich bemühe mich, möglichst neutral meinen Ärger über den Zusammenstoß zu äußern. Die Bitte, sich in kritischen Situationen aus dem Weg zu gehen, kam nicht gut an… Mit der Großen habe ich versucht, allein an einem ruhigen Abend darüber zu sprechen und auch mein Verständnis für ihr Genervtsein zu zeigen. Aber irgendwie habe ich nicht den richtigen Zugang zu ihr gefunden und am nächsten Tag war alles wie vorher. 

Heimlich denke ich dann doch: „Du bist doch schon groß, warum versuchst du nicht, dich nicht von diesem Pillepalle provozieren zu lassen?“ Aber das ist wohl auch ein Problem meiner inneren Haltung… Wie kann ich ihr helfen, ihre Wut eher verbal zu äußern? Und das ist ja leider auch nicht nur schön anzuhören… Doch mal Faber/Mazlish lesen…? Hmmm, du siehst, es fehlt Klarheit in meinem Kopf!

Ich werde mal die Tipps von Anke ausprobieren, sich zuerst dem „Opfer“ zuzuwenden. Hättest du noch andere Ideen für größere Kinder? Für die akute Streitsituation oder auch das Gespräch? 

Liebe Grüße

Charlotte

Andermal geht es ganz friedlich zu.

Liebe Charlotte,

danke für dieses Beispiel mitten aus dem Leben!

Da ich euch nicht persönlich erlebe, kann ich nur Fragen entwickeln und Thesen aufstellen. Vielleicht ist etwas für dich dabei.

  • Du schreibst „ Ich sehe ganz klar, dass diese Situationen gehäuft vorkommen, wenn ich … wenig Aufmerksamkeit für jede Einzelne habe“. Eltern haben heute unglaublich hohe Ansprüche, was Aufmerksamkeit für ihre Kinder angeht. „Exklusivzeit“, „Qualitytime“, „Bedürfnisorientierung“ … Aufmerksamkeit gilt als Wunderwaffe dieser Generation von Mamas und Papas. 
  • Verstehe mich nicht falsch. Ich bin die Letzte, die etwas dagegen hätte, eine großartige Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Wenn ich aber immer das Gefühl habe, ich müsste oder sollte mich unbedingt dem Kind zuwenden und dann gleichermaßen auch noch dem anderen - häufig nicht aus Freude, sondern aus schlechtem Gewissen oder Ausgleich für irgendwas - , dann folgen mir Kinder in dieses System der Aufmerksamkeitskämpfe und des Mangeldenkens. Das ist ein perfekter Nährboden für Streit, weil die Kinder das Grundgefühl entwickeln, irgendwie zu kurz zu kommen.
  • Kinder gehören ganz natürlich in unser Leben. Sie wollen etwas beitragen und sich als Beitragende erleben und nicht als unfertiger Mini-Mensch, der bespaßt, sozialisiert und dessen Gefühlshaushalt von Erwachsenen gemanagt werden müsste.
  • Du versuchst, dich nicht einzumischen, und schreibst: „Doch wenn sie sich hauen oder treten, muss ich doch dazwischen gehen, oder?“ Denkbar wäre, dass sie wissen, sie müssen noch eine „Schüppe Gewalt drauflegen“, um dich doch noch in ihren Konflikt zu ziehen. Interessant wäre zu erfahren, ob sie in der Woche beim Papa das gleiche Verhalten zeigen. Wahrscheinlich sind sie auch in der Schule nicht aggressiv. Welche Funktion hat dann die Aggression zu Hause?

Nichteinmischung nur als Trick

  • Und nun kommt ein feiner, aber elementarer Unterschied zum Thema „Nichteinmischung“: Wenn ich Nichteinmischung als Methode benutze, um den Streit zwischen meinen Kindern zu beenden, ist das nur eine andere Form der Einmischung. Nicht-Einmischung quasi als Trick. Das kann nicht funktionieren. Erst wenn ich mir ganz und gar die Haltung erlaube „Das ist euer Streit!“ und so etwas sage wie „Ihr könnt euch gerne kloppen, aber dann geht in euer Zimmer, in den Flur oder auf den Hof. Ich will in Ruhe meine Zeitung lesen.“, merken sie, dass du ihnen wirklich die Verantwortung für ihren Konflikt überträgst.
  • Du schreibst „Ich versuche, möglichst neutral meinen Ärger über den Zusammenstoß zu äußern.“ Es ist auf jeden Fall eine gute Idee, sich auf keine Seite zu schlagen. „Möglichst neutral“ zu bleiben, ist jedoch eine künstliche Reaktion. Du hast keine Lust auf die ewigen Streits. Du möchtest die Woche, die du - im Wechsel mit deinem Partner - mit den Mädchen verbringst, genießen. Weshalb dann nicht deinem Ärger Luft machen und sagen: „Ich halte das nicht aus. Raus mit euch!“? Du bist ja kein allzeit bereiter Friedensengel, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und als solchen möchten Kinder ihre Mama und ihren Papa auch erleben.
  • Damit empfehle ich kein Herumschreien oder Ausflippen. Eltern kommen mir heute aber übertrieben politisch korrekt und übertrieben pädagogisch vor. Sie können ruhig mal sagen: „Das nervt. Ich ziehe mich da raus!“ Sie müssen nicht immer alles regeln.
  • Du schreibst: „Wie kann ich meiner Großen helfen, ihre Wut verbal zu äußern?“ Deine große Tochter ist neun Jahre alt. Sie kann ihr Wut verbal äußern. Dafür bist du nicht zuständig. Wirklich nicht. Gebe ihr die Verantwortung für ihr Verhalten. Das wird sie reifen lassen. Wenn du ihr suggerierst, sie brauche dabei deine Hilfe, machst du sie hilfsbedürftig. Echte Weiterentwicklung findet statt, wenn du ihr wahrhaftig zutraust, ihre Konflikte zu lösen. Damit schließe ich nicht aus, dass man sich abends auf der Bettkante geduldig anhört, was sie gerade bewegt. Aber bitte keine sozialpädagogischen Belehrungen und keine Therapiestunde!
  • Vielleicht magst du einmal schauen, welches Bild du von deiner älteren Tochter hast. In der Schule oder mit Freundinnen kann sie ihre Konflikte wahrscheinlich gewaltfrei lösen, oder? Warum denkst du, sie könnte das zu Hause nicht und bräuchte dabei deine Hilfe?
  • Und vielleicht magst du aufschreiben, wie du die Woche mit den Mädchen erleben möchtest? Was macht dir mit ihnen Freude? Was machst du gerne und wobei kannst sie mit deiner Begeisterung mitreißen? Es ist eine gute Idee, freudvoll die Führung zu übernehmen, anstatt nur zu reagieren auf ihre Aufmerksamkeits-Scharmützel. 

Begeistert vorangehen und das tun, was man als Mama oder Papa selbst gerne mit den Kindern macht. So können wir Eltern die familiäre Atmosphäre prägen, anstatt nur auf ihre Unzufriedenheit zu reagieren.

Kurz & knackig

  1. Kindern mehr Verantwortung für ihre Konflikte untereinander geben. 
  2. Nichteinmischung bei Streitigkeiten nicht als Methode benutzen. Das funktioniert nicht. Dafür sich lieber wirklich abgrenzen von ihrem Konflikt.
  3. Kindern in jeder Lebenslage mehr zutrauen und nicht meinen, alles regulieren zu müssen. Lieber freudvoll vorangehen, als reaktiv ihren Streitigkeiten Aufmerksamkeit zu schenken. 

Danke, liebe Charlotte, für deine Frage! Wenn ihr auch in einer konkreten Situation Fragen an mich habt, freue ich mich über eure Zuschriften. Am Beispiel ist es doch immer am einfachsten.

Immer fröhlich bleiben,

Eure Uta

PS: Das Titelbild ist von Pragyan Bezbaruah, die Bilder im Beitrag von Anastasia Shuraeva. Alles von Pexels. Vielen Dank!

  • „Wenn ich aber immer das Gefühl habe, ich müsste oder sollte mich unbedingt dem Kind zuwenden und dann gleichermaßen auch noch dem anderen […], dann folgen mir Kinder in dieses System der Aufmerksamkeitskämpfe und des Mangeldenkens.“
    Krass!
    Liebe Uta,
    mir hat es eben dermaßen die Augen geöffnet. Das war mir vorher nie klar, danke! Ich sitz hier grad relativ sprachlos und mit gedanklich offenem Mund… Das erklärt tatsächlich EINIGES, was in unserem Hause so abläuft. Wow! Ich bin gerade geplättet.
    Vielen Dank dafür und liebe Grüße, bis ich wieder (mehr) Worte habe. 🙂
    Dana

  • Liebe Uta,
    ich danke dir von Herzen für diese schnelle, klare und erdende Antwort! Man will doch immer so vieles – eigentlich alles – richtig machen und verheddert sich dann doch…

    Bei ihrem Papa gibt es meines Erachtens weniger Konflikte zwischen den Kindern, was mich natürlich auch umtreibt.
    Ist er aufgrund seiner geringeren beruflichen Belastung geduldiger und gedanklich präsenter für die Kinder als ich? Womit wir wieder beim diesem „Aufmerksamkeitsding“ wären…
    Oder trauen sich die Kinder nicht, solche Konflikte vor ihm auszutragen, da er mehr unter der Trennung leidet und sie ihm das (unbewusst) nicht auch noch zumuten können?
    Sollte ich es somit positiv bewerten, dass sie mich als stabil genug empfinden, um bei mir auch mal die unangenehmen Seiten auszuleben…?

    Ich werde auf jeden Fall versuchen, mich bei Streit mehr abzugrenzen und ganz nach „Uta-Manier“ fröhlich die Führung zu übernehmen – was zum Glück auch schon oft funktioniert!

    Tausend Dank und viele Grüße aus Freiburg
    Charlotte

  • Liebe Uta,
    diesen Artikel fand ich auch besonders hilfreich.
    Mich zuerst dem „Opfer“ zuwenden, hat bei mir/meinen Kindern nicht geklappt. Dafür ist zu unklar, wer hier tatsächlich das Opfer ist.
    Ich werde mir Hilfe suchen, das Familienteam zu stärken.
    Vielleicht eine systemische Beratung oder so. Evtl später auch mit dem Papa zusammen. Jedoch ist es mir wichtig, meinen alleinerziehenden Alltag wieder friedlicher mit den Kindern zu gestalten.
    Danke für deine Arbeit – es ist immer wieder eine Inspiration und hilft, mich zu erden, klar zu sein und fröhlich voranzuschreiten. Danke dir und auch den anderen Leserinnen, die hier Input liefern.
    Viele Grüße
    Marie

    • Liebe Uta,
      ich melde mich nochmal zu Wort. Weil ich mit meinen Kindern gerade eine Erfahrung mache, die ich als sehr wertvoll empfinde.
      Mein kleiner Sohn, 8 J, wollte eine Zeit lang gerne mir mir kämpfen. Ich wollte nicht, hab mich nicht groß drauf eingelassen… seine Oma hat dann mal mit ihm gekämpft – sie hat ihm Übungen aus dem ChiGong gezeigt, die stark und unverwundbar machen.
      Und ich habe mich meinem kleinen Sohn gestellt. Mit ihm gekämpft. Mit einem Kissenschild bewaffnet. Und an einem Tag, an dem er sehr wütig war und ich zurück gewütet habe, war sie da, die Idee, die so simpel ist und ich bin nicht drauf gekommen: Kissenschlacht. Mit Regeln.
      Die gehört seit zwei Wochen zu unserem allabendlichen Ritual. Ich, mein Kleiner 8-jähriger und mein großer 11-jähriger stehen im Wohnzimmer auf dem runden Teppich (Kampfarena) und hauen uns die Kissen auf die Rücken (Kopf und Intim = verboten). Wir üben Stop zu sagen und zu hören.
      Es ist der Hammer, die Jungs finden das toll und ich finde, dass sie auch ein bisschen besser aufeinander Acht geben im Alltag.
      Sie können so viel daraus lernen. Und für mich ist es auch eine unglaublich wertvolle Zeit.

      Liebe Grüße
      Marie

      • Liebe Marie, ganz herzlichen Dank, dass du diese Erfahrung mit uns teilst! So können alle wunderbar Dampf ablassen und lernen, dass es trotzdem Grenzen gibt. Viel Spaß weiter in der Kampf-Arena! Herzliche Grüße, Uta

  • Liebe Charlotte,

    ich war so eine große Schwester, die von der kleinen Schwester ständig provoziert wurde und dann am Ende (gefühlt) immer den Ärger bekommen hat. Du schreibst
    „Heimlich denke ich dann doch: „Du bist doch schon groß, warum versuchst du nicht, dich nicht von diesem Pillepalle provozieren zu lassen?“ “
    Ich vermute, dass kommt bei deinen Kindern auch genau so an. Was sagt dir, dass deine Große nicht versucht, sich nicht provozieren zu lassen und die Kleine einfach so lange weiter macht, bis die Große doch explodiert? Kleine Schwestern wissen genau, was sie sagen/tun müssen, damit die Große explodiert.

    Bei uns war glaube ich ein großer Punkt, dass ich das Gefühl hatte, meine kleine Schwester wird von meinem Papa eindeutig bevorzugt. Heute weiß ich, dass mein Papa einfach sehr gut mit kleinen und sehr schlecht mit größeren Kindern umgehen kann. Dieses Wissen hätte mir damals sehr geholfen, gelassener mit meiner kleinen Schwester umzugehen. So war eine Grundgereiztheit ihr gegenüber da, die natürlich das Fass bei Provokation sehr schnell zum überlaufen gebracht hat.

    Gleichzeitig kann ich mir auch vorstellen, dass es als kleine Schwester nicht ganz einfach ist, mit einer großen Schwester, die schon viel mehr kann und darf und damit vielleicht auch ganz anders ernst genommen wird. Da ist es doch ein tolles Ventil, sie zu reizen, bis sie explodiert und dann Ärger dafür bekommt.

    Vielleicht kannst du ja mal das Gespräch mit deiner Großen suchen, was sie an der Kleinen besonders reizt und was sie sich in solch einer Streit-Situation von dir wünscht. Ganz bestimmt ist das nicht die Einstellung „lass dich doch einfach nicht provozieren“. Vielleicht könnt ihr euch auf bestimmte no-gos einigen, die deine Große sehr verletzen und die genauso viel Ärger einbringen sollten, wie hauen und schubsen. Das könnte das benutzen von privaten Gegenständen genauso sein, wie bestimmte Aussagen („Papa hat mich ja viel lieber als dich“).

    Und ja, Faber/Mazlish ist eine sehr gute Idee. Da geht es in den ersten Kapiteln auch darum, als Eltern auszuhalten, wenn die verbalen Äußerungen über Geschwister „… ja leider auch nicht nur schön anzuhören…“ sind.

    Liebe Grüße
    Hella

    • Liebe Hella,
      hab vielen Dank für deine ausführliche, zusätzliche Perspektive, die ich sehr bereichernd finde.
      Liebe Grüße
      Charlotte

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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