Wenn das eigene Kind zur Plage wird 

 20/01/2022

Sieben Tipps, um als Eltern wieder zu sich selbst zu finden und das Kind liebevoll zu führen

„Gut, dann mache ich das auch noch. Nur damit Ruhe ist.“
Diesen Satz habe ich als Mama oft gedacht und dann doch noch eine Seite zusätzlich vorgelesen, ein Kuscheltier geholt, etwas zu trinken, die Decke nochmal ausgeschüttelt, das Schlummerlicht ausgeschaltet, nein, doch nicht, also wieder eingeschaltet, die Lampe mehr nach rechts gerückt, den kratzenden Kissenbezug ausgetauscht, fünf Küsse verteilt, ja, ich schwöre, es waren fünf, jetzt aber gute Nacht …
Wie oft bin ich über meine eigene Grenze gegangen, habe bizarre Wünsche erfüllt, weil ich dachte, dass meine Kinder das brauchen, sich sonst ungeliebt fühlen, kein Selbstbewusstsein entwickeln, nicht in ihrer Individualität gesehen werden, wenn die geliebten Benjamin-Blümchen-Socken nicht sauber sind, die Zahnbürste im falschen Glas steht und ich das neue Lego-Bauwerk nicht bis zum letzten Mini-Stein am Dach oben links gewürdigt habe.
Wie oft ertragen es Mamas, dass ihr Kind auf ihrem Schoß zu einer Plage wird, es Mama an den Haaren reißt, es ihr Spucke ins Gesicht schmiert, an der Halskette zieht oder in den Hals kneift. Ihr wisst schon, ich meine nicht so ein verschmustes Neugierverhalten, sondern aggressives Verhalten, wenn wir plötzlich merken, es will mir weh tun und meine Gutmütigkeit als Mama wird hier einem makabren Test unterzogen.

Ein Gefühl des Scheiterns

Ein Gefühl der Machtlosigkeit und des Scheiterns überschwemmt einen. Hat man nicht Tag aus und Tag ein jeden Wunsch aus diesen Kulleraugen gelesen? Und jetzt bleibt nur noch Schimpfen, Schreien, am Arm packen und all das, was man sich geschworen hat, nie zu tun, weil man sich einfach nicht zu helfen weiß gegen dieses anmaßende Verhalten des eigenen Kindes.
Wenn wir im Alltag immer häufiger in solche Situationen gerieten, war das für mich das Zeichen:
Ich bin nicht in meiner Mitte!
Ich bin bei allen anderen, aber nicht bei mir selbst. Ich reagiere nur noch blind auf die Bedürfnisse meiner Lieben, werde so eine Art Gefühls-Kellner im Lust-Café meiner Familie, immer in der Hoffnung, dass nach der letzten Bestellung endlich Frieden herrscht.

Hilfe, ich brauche selbst ein wenig Zuwendung!

Diese Rolle des Gefühls-Kellners ist unglaublich anstrengend. Auf diese Weise kostet es viel Kraft, liebevoll und geduldig zu bleiben, das, was man doch immer sein wollte, eine liebevolle Mama, und manchmal gar nicht weiß, warum es so schwer ist. Aber dieses beherrscht Liebevolle, dieser mühsam zu gehaltene Deckel auf dem, was an Aggressionen in einem brodelt, fliegt einem irgendwann um die Ohren. Und vorher schon merken die Kinder, dass wir eine Rolle spielen, dass wir uns erzieherisch nichts zu schulden kommen lassen wollen. Kinder brauchen uns aber in echt. Und deshalb provozieren sie uns so lange, bis die Maske fällt.

Ideen fürs Kraft-Tanken

Was hat mir geholfen, wenn ich den Kontakt zu mir selbst verloren hatte?

  • Zeit für mich ganz allein,
  • mit meinem Mann, meiner Nachbarin oder den Großeltern sprechen, wann sie mir zu einer Pause verhelfen könnten
  • Stille, nur bei sich sein, in sich hinein spüren
  • aufschreiben: Was sind meine Kraftquellen? Was belebt mich? Was tut mir gut? Wo kann ich auftanken und wieder in meine Mitte kommen?
  • ein paar Seiten lesen in „Muscheln in meiner Hand“ von Anne Morrow Lindbergh, in „Das Tao Te King für Eltern“ von William Martin oder die Seiten über „bewusste Elternschaft“ in „Eine neue Erde“ von Eckhart Tolle
  • sich fragen: stört es mein Kind wirklich, dass das Schlummerlicht so nah an der Wand steht, oder habe ich ihm beigebracht, geradezu süchtig nach Aufmerksamkeit zu werden
  • den gemeinsamen Alltag mit Abstand betrachten: Kreisen wir zu sehr um die Kinder, anstatt dass sie sich ganz selbstverständlich in das soziale Miteinander einbringen können?

Das Faszinierende ist zu erleben, wie gerne Kinder einem folgen, wenn sie merken, dass der Erwachsene in seiner Mitte ist. Dann landen die Bauklötze schneller in der Kiste, als man gucken kann.
William Martin drückt es so aus:

Gelingt es dir, auch nur ein klein wenig

von deiner ständigen Sucht nach Kontrolle loszulassen,

wirst du auf ein erstaunliches Paradoxon stoßen.

Was du vorher erzwingen wolltest,

entsteht nun auf natürliche Weise.

Die Menschen um dich herum verändern sich plötzlich.

Deine Kinder legen von sich aus

ein angemessenes Verhalten an den Tag

und haben Freude dabei.

Das Lachen kehrt zu euch allen zurück.

William Martin

Das Tao Te King für Eltern. Bielefeld 1999, Seite 50

Und dann hole ich gerne die Trinkflasche oder rücke das Schlummerlicht, weil beide Seiten aus einer ganz anderen Haltung heraus agieren.

Kinder – niemand fordert so klar unsere eigene Weiterentwicklung ein wie sie.

Immer fröhlich darauf achten, dass ihr nah bei euch selbst bleibt. Und voran geht, statt dem Kind die Führung zuzumuten. 

Sind Kinder nicht genial, dass sie einem dazu verhelfen!?

Eure Uta

Dies ist ein Beitrag, den ich 2019 schon einmal veröffentlicht hatte. Da er sehr beliebt bei euch war, habe ich ihn überarbeitet und aktualisiert.

Der Post gilt wegen der Buch-Verlinkung als Werbung, ist aber unbezahlt.

Die Fotos sind von Gustavo Fring von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    das „nicht in meiner Mitte sein“ kenne ich nur zu gut. Danke, dass du das nochmal aus der Versenkung geholt hast, ich vergesse es zu oft, fühle mich dann schlecht, weil ich nicht die liebevolle Mutter bin, die meine Kinder meiner Meinung nach verdient haben und merke garnicht, dass ich mich jetzt eigentlich mal um mich kümmern müsste, bevor ich mich wieder gut um andere kümmern kann. Gibt es einen Trick, das in dem Moment zu bemerken? Ich denke oft erst dann darüber nach, wenn ich explodiert bin und mich wieder beruhigt habe und das ist eigentlich zu spät.
    Liebe Grüße
    Dana

    • Liebe Dana, danke für deinen Kommentar! Für mich war der Trick, mir regelmäßig Zeit für mich allein zu gönnen. Und wenn es nur zehn Minuten waren. Damit rückt man sofort wieder zumindest ein Stückchen zurück in die eigene Mitte. Bei einer Tasse Kaffee oder zur Not auch eingeschlossen im Badezimmer. Viele Freude bei der Selbstfürsorge! Liebe Grüße, Uta

      • Vorher dann, oder? Also vor der Explosion meine ich, sozusagen prophylaktisch?
        Das wär gut, da muss ich schauen, wie ich mich dazu bringe. Es ist ja doch oft so, dass ich selber am Schluss komme, weil ich denke, bei mir geht es noch, die anderen brauchen es dringender.
        Danke Dir!

        • Liebe Dana, erst einmal danke für diesen Austausch! Ich komme mehr und mehr zu dem Schluss, dass wir eine grundsätzlich andere Haltung zu unseren Kindern einnehmen sollten, sie nicht als so bedürftig ansehen sollten. Die Idee „die anderen brauchen es dringender“ enthält ja die Vorstellung, sie seien schwächer. Ist das so? (Nicht dass ich das nicht so gelebt hätte, aber man wird ja weiser über die Jahre 🤪). Wenn ich also mehr die Haltung einnehme „die sind stark, die kommen auch so zurecht, die brauchen mich nicht, sondern wir genießen einfach die beste Zeit miteinander …“ ist das eine sehr fundierte Explosions-Prophylaxe. Herzlichst, Uta

          • Liebe Uta, ich finde dich und deine Einstellung einfach klasse! Und ich bin sehr froh, dass eure Kinder schon groß sind und du dadurch so weise. 🙂 (Ernsthaft, man sieht ja tatsächlich mit Abstand die Dinge oft ein bisschen klarer.)
            Mit „die brauchen es dringender“ habe ich eigentlich eher gemeint, dass…
            Nein, gerade wollte ich schreiben, dass ich länger aushalte bzw. sie nötiger Dinge brauchen aber das ist genau das, was du schreibst, ich bewerte mich dadurch als stärker oder duldsamer als die anderen. Und ich sehe das eben erst, dass du recht hast mit deiner Aussage.
            Ich sags ja, ich find dich klasse! 🙂
            Danke!
            Liebe Grüße
            Dana

  • Ach liebe Uta, da lese ich heute wieder mal bei dir, meine selbstführsorge ☺️ Und es ist gerade heute wieder so treffend, ich merke wie oft ich diesen Weg gehe, Wünsche erfülle, die Liste nicht endet, ich mich aufreibe und irgendwann explodiere. Und am Ende ist es gar nicht gut für den lieben Nachwuchs ist wenn immer alles springt. Ich müsste eigentlich mal schauen ob ich 2019 nicht auch schon ähnlich kommentiert hab und es immer noch nicht besser kann…Liebe Grüße Tanja

  • Was mir immer wieder hilft ist die Vorstellung, dass Kinder durch unser Vorbild im schlimmsten Fall genauso werden. Und die Vorstellung, dass meine Tochter sich später z.B. für einen Job aufreibt und überarbeitet oder für einen Partner über ihre persönlichen Grenzen geht „um zu gefallen“, weil sie ihre eigenen Grenzen nicht spürt oder nicht kennengelernt hat, dass es kein Liebesbeweis ist, sich aufzuopfern, diese Vorstellung hilft mir manchmal, ab und zu bei mir selbst in diese Richtung nachzufragen…

    Viele Grüße,
    Rini

    • Liebe Rini, danke für deinen Beitrag zu meinem Blog! Ich stimme dir vollkommen zu. Besonders dem Satz „weil sie ihre eigenen Grenzen nicht spürt oder nicht kennengelernt hat, dass es kein Liebesbeweis ist, sich aufzuopfern“. Die Erkenntnis, dass unsere Kinder uns nachahmen und die eigenen schädlichen Muster fortsetzen, ist ein ganz wichtiger Schlüssel für die eigene Verhaltensänderung. Viele Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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