Auf der Rückreise von den schwäbischen Schwiegereltern haben wir im Auto einen Krimi von Henning Mankell gehört. Hörbuch, sieben Stunden, 55 Minuten. Wie in Trance fuhren wir über die Kasseler Berge, so hereingezogen in die Geschichte, dass es niemanden von uns überrascht hätte, wenn im Gebüsch auf dem Waldrastplatz jemand einen Schalldämpfer aufgesteckt und auf uns geschossen hätte oder wir im Graben eine Leiche im Plastiksack unter den Blättern gefunden hätten.

Zum Glück passierte nichts dergleichen. Aber während der kurzen Rast stand ich mürrisch wie Kriminaltechniker Nieberg neben dem Auto und konnte es kaum erwarten, mit Kurt Wallander und Ann-Britt Höglund zusammen die Ermittlungen wieder aufzunehmen. Fast hätte ich „Ystad, Mariagatan“, die Heimatadresse des schwedischen Kommissars, ins Navi eingegeben. Aber obwohl mir die schlaflosen Nächte mit der Pistole unter dem Kopfkissen noch in den Knochen hingen und meine Sinne trübten, riss ich mich zusammen. Der oder die Täter mussten gefunden werden, bevor wir unsere Doppelhaushälfte erreichten.

Ich gestehe, mir war klar, dass dieser Krimi zu düster und zu brutal für Prinzessin (12) ist. Ich gestehe, nachlässig geworden zu sein nach all dem, was sie – wie ich hörte – schon bei Freundinnen an Filmen gesehen hat. Ich gestehe, dass ich diesen Krimi dringend zu Ende hören wollte und ich es nicht geschafft hatte, etwas Harmloseres aus der Bücherhalle zu besorgen.

Hin und wieder drehte ich mich zur Rückbank um und fragte: „Geht es? Ist es nicht zu heftig?“

Was hatte ich erwartet? Dass eine Warnanzeige auf ihrer Stirn blinkte? Dass sie eine Kassette „Ferien auf Saltkrokan“ aus dem Rucksack zieht und sagt „Lass uns lieber das hören, Mama“? Dass Kronprinz (16) ein Lied aus der „Mundorgel“ anstimmt?

Also fuhren wir weiter mit Wallander, mit der nächsten Leiche, mit seiner Angst und Einsamkeit, mit seiner Tabletten gegen Bluthochdruck und Diabetes und seiner ständigen Frage: „In was für einer Zeit leben wir eigentlich?“

Hinter Hannover hatte der Regen aufgehört. Mit mehr Toten war nicht zu rechnen. Der nächste auf der Liste war Wallander selbst. Opfer Nummer 9. Und der überlebte, das war ja klar. Im Auto aßen wir die letzten Apfelschnitz vom Oma. Wallander machte sich eine Tütensuppe. Was anderes hatte er nicht im Haus.

Es war kurz vor dem Elbtunnel, als der psychopathische Aushilfsbriefträger den Kommissar in seiner Wohnung auflauerte. Angeschossen konnte Wallander fliehen. Später überwältigte er den Serienmörder im Wald, übergab ihm im Präsidium den Kollegen und legte sich – zerschunden, verletzt und allein – unter seinem Schreibtisch schlafen.
Wir schleppten die Taschen ins Haus, kraulten die Katzen und gingen auch schlafen.

Ein paar Ferientage verstrichen. Prinzessin zeigte keine Traumatisierungs-Symptome. Aber mir hing diese Düsterkeit aus dem Krimi nach. „In was für einer Zeit leben wir eigentlich?“

Alice Munro gewann den Literaturnobelpreis. Ich kaufte ihren Erzählband „Tricks“, weil ich gelesen hatte, dass sie über Zwischenmenschliches schreibt, und hoffte, dass es mich wärmt. Kunstvoll sind diese Erzählungen, keine Frage. Aber wieder wärmer wurde mir erst, als ich morgens in dem Buch „Dienstags bei Morrie. Die Lehre eines Lebens“ las. Darin beschreibt Mitch Albom, wie er seinen alten Professor besucht, der schwer erkrankt ist und bald sterben wird. Seine Besuche bei Morrie werden zu Vorlesungen über das Leben.

Die Kultur, in der wir leben, ist nicht dafür geeignet, dass die Menschen sich mit sich selbst wohl fühlen.“ Das hatte Morrie mal gesagt. Und er hatte „seine eigene Kultur geschaffen – lange bevor er krank wurde. Diskussionsgruppen, Spaziergänge mit Freunden, Tanzen nach seiner Musik in der Harvard Square Church. Er rief ein Projekt namens Greenhouse ins Leben, wo Arme sich psychologisch betreuen lassen konnten. Er las Bücher, um neue Ideen für seine Kurse zu bekommen, besuchte Kollegen und wurde von ihnen besucht, hielt Kontakt mit alten Studenten, schriebe Briefe an entfernte Freunde. Er nahm sich mehr Zeit, um zu essen und sich die Natur anzuschauen, … Er hatte sich einen Kokon menschlicher Aktivitäten geschaffen – Gespräche, Interaktion, Zuneigung – , und sie füllten sein Leben wie eine überfließende Suppenschüssel.“ (S. 56)

 

Spaziergang mit Sohn – Soßenkönig und Kronprinz auf einem Feld im Dorf der Schwiegereltern

Für die nächste Reise werde ich schauen, ob es „Dienstags bei Morrie“ als Hörbuch gibt und ob ich meine Lieben davon überzeugen kann, es zu hören. Denn es spielt ja doch eine Rolle, was wir uns so in den Kopf tun.

Immer fröhlich sich seine eigene Kultur schaffen

Eure Uta

  • Lieibe Uta,
    super gut geschrieben … hab richtig mitgefiebert!
    Früher hab ich auch gerne alle möglichen Krimis gelesen, mittlerweile suche ich da sehr aus. Vor allem die grausamen und die mit den deprimierenden Beziehungen lasse ich weg. Kann nicht schaden, sich zu überlegen, was man in seinen Kopf lässt ;-).

    Und Prinzessin wird schon keinen Schaden nehmen. Ich glaub, unsere Kinder habe da eine ganz andere Wahrnehmung als wir. Weißt Du, von welchem Film meine Jungs nachhaltig geschockt waren? Von „Herr der Fliegen“. Davon reden sie heute noch …
    LG,
    Isa

  • Welch ein Glück, dass die Bloggerin nicht selbst am Steuer saß!
    Was wäre passiert, wenn Wallander einen Crash verursacht hätte?
    M.

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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