Kronprinz (16) fragte mich, ob ich ihm blaue Lebensmittelfarbe besorgen könnte. Er hätte ein Video gesehen, in dem mit einem Kilogramm Zucker und Lebensmittelfarbe Kristalle hergestellt würden, die wie die Designer-Droge „Crystal Meth“ aussähen.

„Crystal Meth?“


Ich schluckte.


Ja, man sähe kaum einen Unterschied.


Will er meinen Einmachzucker tütchenweise in der Unterführung am S-Bahnhof verkaufen oder will er sich bei „Jugend forscht“ bewerben?


Mich beunruhigt, dass mein Kronprinz weiß, wie „Crystal Meth“ aussieht.


Mich tröstet, dass er mich in die Drogen-Herstellung einbeziehen will.

Wie immer in Situationen elterlicher Zerrissenheit, die wohl auch dann nicht aufhört, wenn die kleine Kartoffel vom ersten Ultraschallbild uns mit Piemont-Kirschen im Seniorenstift besucht, entscheide ich mich für Vertrauen: Ich suche im Supermarkt nach Lebensmittelfarbe.



Plätzchen-Ausstechen war gestern: Pseudo-Droge auf meinem Backblech.
Die blaue Lebensmittelfarbe verlor sich bei der enormen Zuckermenge.


Nicht nur Zucker, der nach Droge aussieht, sondern Zucker überhaupt gehört zu den Erzfeinden von Eltern. Der andere Erzfeind ist der Bildschirm. Zu viel Zucker, zu viel Bildschirm – an diesen beiden Fronten kämpfen alle Eltern.


Bei uns in der Küche liegen Süßigkeiten in den oberen Schränken. Je größer die Kinder wurden, desto höher wanderte alles, was zum Naschen ist: Schokoriegel und Pralinen oben neben den verstaubten Fleischwolf, bunte Zuckerstreusel hinter die Paniermehldose, Chips und Flips hinter den Karton mit dem Raclette-Gerät.


Unser Küchenprinzip „Immer höher, immer ungesünder“ hat aus den Kindern wahre Kletterkünstler gemacht. Prinzessin (12) bewegt sich auf der Arbeitsfläche wie eine Katze auf dem heißen Blechdach. Sie hangelt sich an den Oberschränken entlang, balanciert auf dem schmalen Grat zwischen Spüle und Abgrund und angelt mit dem Kartoffelstampfer die Lakritzen-Schnecken aus dem höchsten Oberschrank. Wenn sie meine Schritte im Flur hört, springt sie hinunter und hopst zwischen Geschirrspüler und Backofen, als müsste sie für die nächste Hip-Hop-Aufführung üben. Nur Liedpfeifen geht nicht wegen der Lakritz-Schnecken in den Backen.


Mit Süßigkeiten bin ich nicht so streng, weil ich bei Felicitas aus meiner Klasse gesehen habe, was passiert, wenn Eltern Süßigkeiten total verbieten. Felicitas Vater war damals Chefarzt der örtlichen Kinderklinik und sie durfte zu Hause überhaupt nichts naschen. Ihren Ausgleich fand sie am Kiosk neben dem Schulhof. Nie werde ich vergessen, wie sie zitternd da stand und sich mit beiden Händen Schokoküsse in den Mund stopfte. Diese Schaumküsse hatten für Felicitas mindestens ein Suchtpotenzial wie „Crystal Meth“.


Bei uns darf man sogar vor dem Mittagessen etwas aus den Oberschränken holen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Kohlrabi noch hart sind oder das Fleisch nicht ganz durch, weil ich mit einem Text fertig werden musste. Wenn ich dann in der Küche wirbele, brauche ich Nervennahrung. Und die will ich den Kindern nach einem anstrengenden Schultag auch nicht verbieten.


Auf einem meiner Backbleche ist die Zuckerpampe inzwischen bretthart geworden. Mit einem Messer hat Kronprinz die ersten Brocken gelöst und in Tütchen abgefüllt. Es sieht verboten aus.

Drei Beutel stopft er sich in die Innentasche seiner Jacke, steigt auf sein Fahrrad und winkt mir zu. Versonnen lecke ich an dem Messer mit den Resten von Pseudo-Crystal-Meth.

In die U-Haft werde ich ihm Lakritzschnecken mitbringen.

Immer fröhlich in Beziehung bleiben

Eure Uta

  • Wahrscheinlich……. hatte er eine super Idee, wie er sein Taschengeld aufbessern könnte. Bleibt abzuwarten was seine Kunden sagen, wenn sich herausstellt, dass sie sich Zucker in die Nase gezogen haben. Ich hoffe mal, es ist ein Scherz unter gleichalten Jungs.

    Herzlich, Katja

  • You made my day :-))))))))))

    ich liebe Deinen Schreibstil…

    mit Kindern wird es nie langweilig… 😉

    und bin schon auf die Fortsetzung gespannt…

    die allerherzlichsten Grüße

    Andrea

  • wie sich die zeiten ändern…
    ich erinnere mich noch zu gut, wie mein bruder und ich vakuumiergerät und mehl nutzten um reichlich koks-tütchen zu produzieren. diese wurden stilsicher in einem alten aktenkoffer nebst im paint imitierter dollarnoten-bündel gelagert…
    leider nur bis zu dem tag an dem unsere mutter das ganze spitz bekam… ihr war das ergebnis zu „echt“…

    liebe grüße
    julia

  • …und für die blaue Farbe…. die Farbpasten, die im Fachhandel oder online zu bekommen sind (Z.B. von Wilton), haben deutlich mehr Kraft als die Tuben aus dem Supermarkt… alternativ könnte auch Ostereierfarbe klappen… viel Spaß

  • Liebe Uta,
    Dein Bericht hat mich echt zum lachen gebracht und bei deiner grazilen Katze die akrobatische Höchstleistungen in der Küche verbringt habe ich gedacht, dass ich wohl die Zwillingsschwester bei mir zu Hause 😉
    Mein 17 jähriger kam noch nicht mit der „Droge“ an, ich hätte aber mindestens genau so schockiert, verwundert und dann belustig geschaut. Wie schön, dass sie noch zu einem kommen und „Hilfe“ brauchen *lach*
    Ich freue mich schon auf Deine nächsten „Erfahrungsberichte“ würde mich übrigens interessieren, ob der Große noch „aufgeflogen“ ist 😉
    liebe Grüße
    Michaela

  • Puh, da steht uns ja noch etwas bevor! Mal sehen, wann meine Kinder Tütchen mit geheimnisvollen Kristallen in den Jackentaschen haben …
    … und ob ich dann auch so cool bleiben kann. Ich werde an dich denken!

    Meine Kleine Tochter (3) ist auch so ein Kletteräffchen geworden – wegen der Süßigkeiten. Nun habe ich immer einiges an Süßkram etwas weiter unten, da es mir doch gefährlicher scheint, auf einem IKEA-Kindertritt (nicht besonders rutschfest), der auf die Arbeitsplatte gehoben wurde zu stehen und sich nach den Griffen des Oberschrankes ganz außen zu recken, als ein bisschen zu naschen. Dass Zucker ein Suchtmittel ist, ist nicht zu bestreiten. Zwei meiner Kinder tun ALLES für ihre tägliche Dosis und bekommen sie auch irgendwie IMMER. Warum also dieser Affentanz darum? (dachte ich mir irgendwann) Aber vieles steht auch versteckt irgendwo, sonst wäre alles mit einem Schlag weg.
    Mein 9jähriger dealt auch jetzt immer schon: „Wenn wir jetzt MEINE CD hören können, bekommst du auch etwas von meinem MAOAM!“ (In der Schule erschnorrt)
    Aber es stimmt, irgendwann werde ich froh sein, wenn die bläulich-weißen Kristalle in seiner Jacke nur gefärbter Zucker sind …
    Danke wiedermal für den Denkanstoß!
    Liebe Grüße!
    Jenny

  • Oh, danke für den Text! You made my day 😉 Selber in ähnlichen Situationen mit zwei Girls 16 (huch,arrgh und stöhn) und 14, tja und das Nesthäckchen männlich mit 8 Jahren. Jemand schrieb mal von der Kunst einen Kaktus zu umarmen. Bei unserer ältesten ists momentan di Kunst ein Nagelbrett zu umarmen.
    Wo ist dein Sohnemann zur Zeit? grinsgrins

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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