Kinder nicht nötigen, die Hand zu geben 

 27/09/2016

Ein paar ganz unterschiedliche Erkenntnisse für ein schönes Leben mit Kindern:

Sorgenvoller Leistungsdruck der Eltern bringt Schüler aus dem Tritt
Der Psychologieprofessor Julius Kuhl und seine Mitarbeiterin Ann-Kathrin Hirschauer vom Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung in Osnabrück haben durch eine Befragung von Dritt- und Viertklässlern herausgefunden, dass „sorgenvoll leistungsorientierte“ Eltern das Lernen ihrer Kinder blockieren. „Diese Eltern verzweifeln schnell, wenn schulische Probleme auftauchen. Sie machen sich leichter Sorgen, vergleichen die Leistungen des Kindes mit anderen, grübeln, ob es seinen Lebensweg finden wird“, so Hirschauer. Dass diese Haltung der Eltern Auswirkungen auf die Schüler haben, konnten die Forscher über einen längeren Zeitraum beobachten. „Obwohl alle Kinder gleich gut lernten, verschlechterten sich bei denen mit besonders besorgten Eltern bereits nach einem halben Jahr die Noten statistisch signifikant“, schreibt Kerstin Kullmann im „Spiegel“, Nr. 35, 27.8.2016, Seite 99.
Professor Kuhls Empfehlungen lassen sich wie folgt zusammen fassen:

  • Eltern sollten sich für die Unterstützung bei schulischen Aufgaben ihrer Kinder bereit halten, sie bei Schwierigkeiten ermuntern und kleine Hilfen anbieten.
  • Eltern sollten darauf achten, dass das Kind in dem Moment für Hilfe wirklich empfänglich ist, sonst wird es sowieso nicht fruchten und man hat Stress und schlechte Stimmung noch oben drauf.
  • Das Kind braucht sowohl die Hilfsbereitschaft seiner Eltern als auch ihr Vertrauen, dass es schulische Aufgaben allein schaffen kann. Permanenter Druck und Kontrolle sind kontra-produktiv, weil sie Ausdruck eines tiefen Misstrauens sind und das Selbstgefühl des Kindes angreifen.

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Echte Anerkennung? –  Ja!  Lobhudelei? – Nein! 
Mein Mann erinnerte sich neulich an ein Vorspiel bei der Klavier-Lehrerin unserer Kinder. Einige ältere Schüler hatten schon ihre Stücke präsentiert, als ein kleines Mädchen sich an den Flügel setzte. Es klimperte ein paar Takte, alle waren entzückt und applaudierten, aber ihre Eltern, Geschwister und Großeltern sprangen mit Blumen in der Hand auf, spendenden Ovationen als hätte sie kein Kinderlied geklimpert, sondern die Tiefen von Bachs „Toccata“ völlig neu ausgelotet.
Wie schön, dass die ganze Familie zum Konzert gekommen war. Und begeistertes Applaudieren gehört natürlich dazu. Aber wie gering müssen ihre Eltern vom Potenzial und von der inneren Stärke des Mädchens denken, wenn sie glauben, es bedürfe eines solches Getöses, um sich geliebt und anerkannt zu fühlen?

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Auf Schreien gleich zu reagieren, schützt später vor übermäßigen Ängsten

Das Buch „Kinder haben Ängste“ von Jan-Uwe Rogge ist schon 19 Jahre alt. Trotzdem fand ich schon nach dem ersten Drittel, dass sich meine Anschaffung eines gebrauchten Exemplars gelohnt hat.
Das Wort „Angst“ – erläutert Rogge – kommt vom lateinischen „angustus“ und bedeutet „eng“. „Kinder erleben im Laufe ihrer Biografie manche Situation, die sie unter Druck setzt, manchmal einen überbehütenden Erziehungsstil, der sie nicht loslässt, in wahrlich erdrückender Enge hält. Aber auch das Gegenteil macht Kindern Angst: der fehlende Körperkontakt und Halt, die Gleichgültigkeit, die emotionale Leere,“ (Jan-Uwe Rogge: Kinder haben Ängste. Von starken Gefühlen und schwachen Momenten. Reinbek bei Hamburg, 1997, Seite 20)
Die beste Basis, damit Kinder gut mit Ängsten klar kommen, wird in den ersten Monaten und Jahren gelegt. Daran ließ Rogge schon vor 19 Jahren keinen Zweifel. „So konnten die englischen Forscher Bell und Ainsworth zeigen, dass Babys, die nicht spontan, sondern erst verzögert bei Weinen und emotionalen Ausbrüchen elterlichen Trost und Zuspruch fanden, am Ende des ersten Lebensjahres wesentlich häufiger weinten als jene Kinder, denen sofort Kontakt zuteil wurde. Ganz offensichtlich hat das zögerliche Elternverhalten Unsicherheit, fehlende Verlässlichkeit bei den Kindern aufgebaut, so dass die Kinder ihre Eltern durch Weinerlichkeit an sich zu binden versuchten.“ (ebenda, Seite 37) 
Und einen Absatz vorher schreibt Rogge: „Säuglinge, Babys, ganz junge Kinder sind noch nicht in der Lage zu warten. Das ist kein böser Wille, sie wollen vielleicht, aber sie können es nicht.“ (ebenda, Seite 37)
Als die Gewerkschaft „Verdi“ vor etlichen Monaten (zurecht) um eine bessere Bezahlung für Erzieherinnen stritt, hörte ich im Radio auch den Vorschlag, man solle ihr Gehalt staffeln: je größer die betreuten Kinder, desto mehr Geld sollten die Erzieherinnen bekommen. Das zeigt, dass in vielen Köpfen immer noch nicht angekommen ist, wie anspruchsvoll und essentiell wichtig eine feinfühlige Betreuung der ganz Kleinen ist.

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Respekt vor dem ganz eigenen Tempo der Annäherung an Fremde

Auf einem Fest neulich habe ich erlebt, dass ein kleiner Junge gegen seinen Widerstand genötigt wurde, einer Verwandten einen Kuss zu geben. Ich glaubte, das sei ausgestorben. Offenbar nicht.

Etwa vom sechsten Lebensmonat an entwickeln Kinder die Fähigkeit, zwischen vertrauten und nicht-vertrauten Personen zu unterscheiden. Waren sie vorher völlig begeistert, wenn sie in der Sippe von einem Arm zum anderen gereicht wurde, beginnen sie mit etwa einem halben Jahr zwischen den Personen zu differenzieren. Und das kommt manchmal gar nicht gut an bei Tante Claudia oder Oma Hilda, die ihre schmatzenden Küsse nicht mehr loswerden kann.

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Ausschnitt aus dem Bilderbuch „Manchmal bin ich wütend“ von Charme Solo Vendrell.

Dazu nochmals Jan-Uwe Rogge: „Kinder brauchen eine Aufwärmphase, sie bestimmen das Tempo der Annäherung zu unbekannten Personen. Bleiben diese auf Distanz, dann ergreifen Kinder irgendwann die Initiative: Sie suchen den Blickkontakt, sie lächeln, sie machen spielerische Annäherungsversuche, sie kriechen hin, manchmal suchen sie, wenn die Personen ihnen vertrauter geworden sind, Körperkontakt.“ (ebenda, Seite 42) Eltern sollten diese Entwicklungsphase unbedingt respektieren, fordert Rogge. Denn wenn kleine Kinder nicht gleich freundlich und nett seien und jedem die Hand geben würden, würden sie sich damit schützen. Und das ist eine ganz wichtige Fähigkeit im Umgang mit Fremden in späteren Jahren.

Immer fröhlich den sorgenvollen Leistungsdruck auf Schüler unterlassen, einfühlsam und prompt auf Babys reagieren und Kindern keinen Körperkontakt aufdrängen.
Eure Uta

Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus dem Bilderbuch „Manchmal bin ich wütend“ von Charme Solo Vendrell.

  • Liebe Uta,
    was tun, wenn sich die Sorgen doch einschleichen? Selbst wenn ich bewusst entscheide, nicht zu vergleichen und keinen Druck auszuüben, fallen vielleicht doch Sätze, die nicht gewollt Druck aufbauen oder die Sorgen durchschimmern lassen.
    Und was tun bei Kindern, die sich im Kindergarten oder Schulalter nicht ans Hand geben/Danke und Bitte sagen/in die Augen schauen gewöhnen wollen? Ich will meinem Kind nicht zuviel Druck machen, aber ich wünschte mir, es würde manche Dinge einfach machen, weil es damit leichter durchs Leben kommt. Klar mache ich mir Sorgen, dass es sich das Leben unnötig schwer macht und dadurch Ablehnung/Frust erlebt und dadurch noch weniger Motivation verspürt, auch mal über den eigenen Schatten zu springen.
    Liebe Grüße,
    Marie

  • Mein Sohn ist bei Fremden oft sehr zurückhaltend und skeptisch. Wie wohltuend zu lesen, dass das offenbar völlig normal ist. Finde auch, dass man Kindern keinen Körperkontakt aufdrängen sollte. Das fühlt sich einfach nicht richtig an. Danke dir sehr für deine weisen zusammengefassten Worte, Christina

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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