Die kleinste Kleinigkeit 

 06/02/2017

Wie Eltern Machtkämpfe mit ihren Kindern vermeiden können.

„Hast du deine Hände mit Seife gewaschen?“ – „Nein!“ – „Dann Abmarsch zurück ins Bad.“ – Nein, mach ich nicht.“ – „Dann brauchst du gar nicht an den Tisch zu kommen!“- „Dann esse ich nichts.“ ….
Der Klassiker! Mehrfach erlebt mit beiden Kindern.
Wenn Eltern sich verstricken in Machtkämpfe mit ihren Kindern, ist da schwer heraus zu kommen. Je mehr man insistiert, umso schlimmer wird es, und irgendwann ist das Familien-Klima ein Reiz-Klima. Bei der kleinsten Kleinigkeit hängen alle sofort an der Decke.
Woran liegt das?
Es liegt daran,

  • dass ich als Mama oder Papa Regeln für wichtiger halte als das Leben,
  • dass ich das Gefühl habe, ich müsste beweisen, dass ich eine gute Mama oder ein guter Papa bin,
  • dass ich selbst unzufrieden bin mit der Gestaltung der Bastelarbeit, des Nachmittags oder meines Lebens
  • dass ich unter Zeitdruck stehe,
  • dass ich Recht behalten will,
  • dass ich glaube, Eltern müssten immer konsequent sein oder sich immer durchsetzen,
  • dass ich zu selten über mich lachen kann,
  • dass ich fokussiert bin auf die Alltagspflichten und nur noch Erledigungslisten sehe statt das Schöne,
  • dass ich Angst habe, mir würde alles entgleiten,
  • dass ich den Kindern und dem Leben nicht vertraue,
  • dass ich meiner Führungskraft und persönlichen Stärke nicht vertraue und glaube, ich müsste mich mit Lautstärke, Lieblosigkeit und Druck durchsetzen,
  • dass ich in Widerstand gegen das Kind gerate und seinen Widerstand herausfordere,
  • dass es mein Verhalten spiegelt und ich mich weigere, mich in seinem Spiegel zu erkennen,
  • dass ich dem Kind die Schuld gebe, statt als Erwachsene die Verantwortung für die gereizte Stimmung zu übernehmen,
  • dass ich gegen etwas ankämpfe und das, wogegen ich kämpfe, dadurch nur noch stärker mache, weil all meine Energie da hinein geht,
  • dass ich beginne, mein Kind nur noch als Störenfried zu betrachten, und es mir dieses Bild unbewusst bestätigt (self-fulfilling prophecy).

Ich habe eine sehr gute Freundin, die früher als Lehrerin gearbeitet hat und heute Menschen begleitet, die bald sterben werden. Zur Zeit betreut sie eine Frau, Anfang 40, unheilbar an Krebs erkrankt, Mutter von zwei Kindern, 7 und 4 Jahre alt. Auf dem Heimweg von ihrem ersten Besuch in dieser Familie hat meine Freundin im Auto nur geweint. Und als sie zu Hause ankam, hat ihr Mann mit ihr geweint. Meine Freundin schreibt: „Diese Hospizbegleitung von Frau S. ist so traurig und zugleich auch mutmachend für mich, da ich erleben darf, wie hoffnungsvoll Frau S. ihr Leben anpackt.“
Wie wird Frau S. mit ihren Kindern sein? Wie wir alle mit unseren Kindern? Mal geduldig, mal aus der Haut fahrend? Wahrscheinlich. Wird ihr das pure Zusammensein mit den Kindern wichtig sein oder das Einhalten von Regeln? Wird sie auf ein Mindestmaß an Schaum bestehen beim Händewaschen oder wird sie sich einfach mit den beiden auf die Badematte legen und den Duft der Seife in vollen Zügen einatmen?
Wird sie Essen noch genießen können? Oder sich vielleicht daran freuen, wie ihre Kinder sich auf den Schokoladen-Pudding stürzen? Wird sie sich erinnern, wie sehr sie sich mal darüber aufgeregt hat, dass der Kleine einmal mit einer Hand ganz in den Pudding eingetaucht ist?

Ich bin nicht bereit, mir vom Alltag seine grauen Maßstäbe aufzwingen zu lassen. „Das Leben ist schön“ – diesen Film werde ich mir endlich heute Abend anschauen, ihr wisst schon, der Film über den Vater, der mit seinem Sohn im KZ ist, ihn aber aus Liebe glauben lässt, es handele sich um einen schönen Ort, an dem sie beide Spaß haben könnten. Also, heute Abend werde ich ihn gucken.
Und wie kommen Eltern aus Machtkämpfen heraus?

  • Machtkämpfe entstehen meist aus Zeitdruck. Es kann schon helfen, morgens eine halbe Stunde früher aufzustehen, um alles mit mehr Ruhe machen zu können, am Nachmittag Termine beherzt streichen und es genießen, sich gemeinsam durch den Nachmittag treiben zu lassen.
  • Sich selbst etwas Schönes gönnen, eine Maniküre, ein warmes Bad, eine Kerzenschein-Dinner mit dem Partner, einen Spaziergang mit der besten Freundin … den eigenen Akku wieder aufladen, woher soll sonst die Liebe und die Energie kommen?
  • Ich verändere meine Absicht: statt „alles schnell und effektiv mit dem Kind erledigen und abhaken“ formuliere ich die Absicht „ich habe eine gute Zeit mit meinem Kind“, dann bin ich schon ganz anders ausgerichtet und mein Kind muss mir die Nähe und Aufmerksamkeit, nach der es sich sehnt, nicht abtrotzen,
  • die Bindung pflegen – der kanadische Kinder- und Jugendtherapeut Gordon Neufeld spricht von einem „Tanz der Bindung“, bei Babys würden wir es noch automatisch machen; wir lächeln es an, kitzeln es, schnalzen mit der Zunge, machen große Augen …. Bei älteren Kindern dagegen würden wir die Bindung als selbstverständlich voraussetzen. Dabei hilft es ungemein, wenn wir dem Kind signalisieren: „Schön, dass du da bist!“ – „Ich bin gerne mit dir zusammen!“ Wir wissen, dass wir unser Kind lieben. Aber kann unser Kind es unter all diesem Gemecker noch spüren?
  • Jesper Juul berichtet in „Aus Erziehung wird Beziehung“ von einer Befragung von Kindern zwischen drei und sechs Jahren. Das Ergebnis: 90 Prozent der befragten Kinder empfinden es so, dass Eltern 80 Prozent der Zeit, die sie mit ihnen verbringen, schimpfen. Die befragten Erwachsenen hingegen meinen, sie würden nur 10 Prozent der Zeit schimpfen. (Jesper Juul: Aus Erziehung wird Beziehung. Freiburg 2005, Seite 111) 
  • … und wenn ich damit aufhöre, verschiebt sich beim Zusammensein die Energie: „Mh, lass mich mal an deinen Händen schnuppern. Die riechen ja gar nicht nach der neuen Seife, sondern nach Bus und altem Butterbrot. Kannst du sie nochmal waschen? Dann mache ich wieder einen Schnuppertest.“
  • Ich bin die Steuerfrau für meine Kinder. Ich habe meine Ziele und Wünsche für sie klar im Blick und das Ruder fest in der Hand. Unterwegs beißen wir uns nicht an Kleinigkeiten fest und haben eine richtig gute Zeit.
  • Die Kinder spüren meine Absicht: Machtkampf, Rechthaberei, Autoritätsgeklingel oder liebevolle Steuerung in Richtung gemeinsames Glück?

Das gilt natürlich auch für ältere Kinder. Gordon Neufeld beschreibt in seinem Buch, wie er mit seiner Tochter im Teenager-Alter die Bindung gestärkt hat. Da der innere Draht zu seiner Tochter Tasha ganz abgerissen war, nahm er sich ein paar Tage frei und verbrachte Zeit mit ihr in einem Ferienhaus. Durch ihren abweisenden Blick und ihren Missmut ließ er sich nicht abschrecken und langsam kamen sie sich auf Wanderungen und Kanu-Fahrten wieder näher. Dabei verzichtete er ganz darauf, sie mit den Themen zu bearbeiten, bei denen die Eltern Veränderungsbedarf sahen, sondern richtete sich ganz darauf aus, einfach mit ihr zusammen zu sein und die Zeit zu genießen.
Ebenso ein guter Freund von mir. Als es mit seinem Sohn in der Schule überhaupt nicht gut lief, mietete er für sie beide ein Hausboot in Holland und sie verbrachten Zeit mit einander. In der Schule fand später keine Kehrtwende statt. Trotzdem blieb der Vater immer in Beziehung zu seinem Sohn, er blieb einfach immer an ihm dran. Inzwischen hat der Sohn einen Schulabschluss und absolviert ein soziales Jahr. Und beide haben einen guten Draht zueinander. Welch ein Fundament, wenn man so einen Vater hat!
Immer fröhlich die Kämpfe aufgeben und gelassen in Beziehung bleiben!
Eure Uta

  • Liebe Uta,
    Danke dafür, dass du mich immer wieder mit deinen Beiträgen erdest. Gerade war ich seit einiger Zeit in einer Mecker- und Schimpfschleife gefangen. Alles war blöd, die Tage zu grau und ganz schlimm das Gefühl an allen Fronten nur funktionieren zu müssen. Und jetzt nehm ich es mir wieder vor: das Durchatmen für alle, das Hinschauen und Hinhören, das Erleben und nicht das Erledigen. Danke.

  • Oh je, der Ratschlag mit „viel Zeit einplanen“ hält sich hartnäckig! Gerade gestern haben wir wieder festgestellt, dass niemand das Kind daran hindert, am Ende der Pufferzeit einfach weiterzutrödeln!
    Wir waren ausgesprochen früh dran, haben ohne Hektik Bad, Anziehen und Frühstück hinter uns gebracht. Nur noch Schuhe und Jacke, dann kommen wir pünktlich aus dem Haus und erwischen ohne Rennen die Bahn… da sieht sie ihre Flöte und muss „nur kuuuuuurz!“ drauf spielen. Und wieder haben wir knapp die frühere Bahn verpasst, mussten in der Kälte warten und am anderen Ende hetzen. Bei uns scheint das nicht anders zu gehen…

    • Liebe Christine,
      ich lese gerade deinen Kommentar und kann dich gut verstehen. Bei uns hilft der Puffer auch nicht immer. Zur Flöte habe ich gerade gedacht: warum nicht mal auf dem Weg zur Bahn flöten – oder eben nicht, weil die gemütliche Zeit nun um ist und du nicht möchtest, dass der bisher schöne Morgen mit Hetzen endet. Nur eine Idee, vielleicht hilft es dir.
      Liebe Grüße
      Sternie

  • Liebe Uta, bei der Recherche für diesen Artikel hast du vermutlich heimlich bei uns am Esstisch gesessen… Leider! In vielen von den Dingen, auch Ursachen habe ich mich und meine Familie wiedergefunden. Ein immerwährender Kampf zwischen den Bedürfnissen, die jeder einzelne von uns als Familienmitglied hat und den äußeren Zwängen wie Pünktlichkeit im Job und dem eigentlichen Arbeitspensum. Aber Erkennen ist sicher der erste Schritt. Leider habe ich momentan das Gefühl, selbst und allein für eine Veränderung sorgen zu müssen. Dazu fehlt mir noch die Kraft. Diese Woche „genieße“ ich das Kranksein und die Entschleunigung. Vielleicht kann ich erste Ansätze daraus für den normalen Alltag mitnehmen.
    Dir jedenfalls danke ich herzlich für deine Worte, die mich immer wieder nachdenken und überdenken lassen. Tine

  • Liebe Uta,
    mal wieder ein wunderbarer Beitrag. Ich möchte so viel davon umsetzen, oft gelingt es mir auch schon. Aber bei uns entstehen die Machtkämpfe eher zwischen dem Vater und den Söhnen. Und was kann ich da machen? Wenn es allzu schlimm wird, gehe ich dazwischen, was aber der Beziehung zum Partner nicht unbedingt gut tut, da ich seine Befähigung, die Kinder gut zu erziehen in Frage stelle.
    Manchmal, wenn ich merke, die Situation kippt, dann schicke ich ihn weg, er soll sich mal ausruhen (es ist ja meistens am Abend, wenn alle müde sind und er von der langen Heimfahrt auf der A66 genervt). Dann übernehme ich das ganze Abendritual. Aber das ist wirklich oft anstrengend mit den Dreien und ich will auch mal Feierabend und Unterstützung… seufz.
    Genug des Selbstmitleids und immer fröhlich optimistisch bleiben 🙂
    Es grüßt die SteffiFee

    • Liebe Uta ein toller Beitrag. Ich bin da ganz deiner Meinung.
      Und noch ein Tipp wenn die „Machtkämpfe“ nicht besser werden: Familienstellen ist eine gute Möglichkeit jedem in der Familie seinen Platz zukommen zulassen. Manchmal steht man außerhalb und ist deshalb aufmüpfig. Ich hab sehr gute Erfahrungen damit gemacht.
      Liebe Grüße
      Dani

  • Liebe Uta,
    ein ganz toller und hilfreicher Beitrag, danke!
    Leider befinden wir uns oft in Situationen, die in Schimpfen und Ungeduld münden. Mich macht es, wenn Ruhe eingekehrt ist, traurig. Die Herzbuben sollten sich schließlich wertgeschätzt fühlen.
    Meist liegt die Meckerei an meiner Erschöpfung oder der des Vaters. Wir drehen hoch bei Dingen, die den Stress nicht wert sind. Aber ich habe es zunehmend im Blick und versuche, Ruhe zu bewahren, du gibst mir einen guten Leitfaden. Ich hoffe, es gelingt mir irgendwann durchgängig.
    Herzliche Grüße,
    Frieda

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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