Lebensfreude ist hoch-infektiös 

 29/10/2018

Das Kind der eigenen Begeisterung folgen lassen, statt es mit Kümmern zu ersticken.

Eine Mama hat mir beim Coaching erzählt, dass sie neulich Lust hatte, selbst Tortellini mit einer Ricotta-Füllung zu machen. Ihre Tochter, sieben Jahre alt, ließ sich von der Begeisterung anstecken und werkelte mit in der Küche. Die größte Überraschung aber war, dass das Mädchen die Tortellini aß. Sonst eine schlechte Esserin, die bis zu einer Stunde am Tisch verbringt, um aberwitzig kleine Mengen Vollkornbrot und Viertel von Cocktail-Tomaten hinunterzubringen, verspeiste sie diesmal mit Lust eine Tortellini nach der anderen. Kein Verhandeln, keine mütterliche Sitzblockade bis zum letzten Kohlrabi-Stick, keine Verweigerung, kein Kampf. Einfach Freude am Essen. Und das alles entstand nebenbei, weil die Mama sich gönnte, etwas zu tun, was ihr Freude macht. Ohne irgendeine Absicht für das Kind.
Freude ist hoch ansteckend. Selbst das missmutigste Kind kann sich kaum davor schützen.
Mir fiel diese Tortellini-Ricotta-Geschichte heute morgen ein und dachte, ich könnte darüber schreiben. Und dann dachte ich, ich könnte das sogar leben.
Gestern Nacht bin ich mit einem verspäteten ICE aus München zurück gekehrt, bin noch in einem Gespräch bis nach Mitternacht mit dem Kronprinzen (21) versackt, der nach der Klausurenphase ein paar Tage in Hamburg verbringt, schleppte mich aus dem Bett, um Prinzessin ein Doping für die Matheklausur zuzubereiten, war schon gestresst, ehe der Tag richtig angefangen hatte, dachte, der Sohn könnte ja auch mal aufstehen, wo wir doch so viele Arzt- und sonstige Termine haben, typisch, diese jungen Leute, kommen einfach nicht in die Puschen und erwarten, dass ihnen das Frühstück im Bett serviert wird, dass im Leben die gebratenen Tauben nur so rumfliegen, vom Lieferservice gebracht werden oder in überteuerten Sushi-Rollen stecken … und hielt inne.
Was braute sich da in meinem Kopf zusammen? Wie komme ich dazu, in dieser Weise über den Kronprinzen zu denken? Wollte ich eine Stunde später auch mit so einem grauen Gesicht in der S-Bahn sitzen wie die meisten Menschen? (Äh, im Auto! Mit dem Kronprinzen fährt man Auto!) Missmutig, genervt, sorgenvoll, gestresst?
Ich fasste einen Entschluss: Ich werde nicht zulassen, dass eine solche Schwere einzieht in mein Leben!
Die To-Do-Liste wurde durchlüftet. Okay, es gab zwei Termine, die es einzuhalten galt. Das andere konnte ich locker dahinter einsortieren oder streichen, blieb genug Zeit, ein schönes Frühstück zu zelebrieren. Ich garnierte Apfelstückchen auf einem Granola-Müsli, Weißbrotscheiben hüpften aus dem Toaster, Räucher-Lachs fand sich in Röllchen gedreht auf einem Teller wieder, der Kaffee-Automat brummte sich in Brüh-Bereitschaft  …
Warum sollte ich den Studenten nicht mit einem schönen Frühstück verwöhnen, wenn er mal da ist? Ich war perplex, wie schnell ich fast in diese elterliche „Es-bleibt-mal-wieder-alles-an-mir-hängen“-Missmutigkeit gerutscht wäre. Das ist diese Haltung, die aus wunderbaren Jugendlichen „Pubertiere“ macht. Und wie ihr merkt, kann ich das gar nicht leiden. Aber ich schweife vom Thema ab. Ich wollte den Kronprinzen wecken und tat es fröhlich. Es folgte ein schönes Frühstück, eine entspannte Auto-Fahrt, ein Bank-Termin in Rekordzeit, Zwischenstopp in einer Kaffee-Rösterei und eine Parklücke zwei Minuten von der Arztpraxis entfernt.
Freude ist nicht nur ansteckend, sie ist ein Sog für gutes Gelingen. Plötzlich funktionieren Sachen, die unter Stress garantiert schief gegangen wären.
Und als Eltern kann man dann das Kontrollieren, Ermahnen und Meckern einfach lassen. Unser Sohn fuhr so entspannt und rücksichtsvoll Auto, dass ich keinen Piep sagen musste, und die Tortellini-Ricotta-Mama vom Anfang konnte sich ihre Vitamin-Vorträge und ihr Drohen („Wenn du die Gurke nicht aufisst, gibt es auch keine Fruchtschnitte morgen für die Schule!“) sparen. Leben kann so leicht sein!
Gestern im Zug habe ich nach langer Zeit wieder in „Dein kompetentes Kind“ von Jesper Juul gelesen, eines seiner besten Bücher, wie ich finde. Dort entdeckte ich das Zitat:

Der Tradition gemäß denken und handeln wir oft so, als sei unser Verhältnis zu Kindern eine Einbahnstraße. Moderne Eltern scheinen unablässig damit beschäftigt zu sein, ob sie den Kindern auch genug geben. Indem sich unsere Kenntnisse über die kindliche Entwicklung vermehrt haben, fragen wir uns, ob die Kinder genug Aufmerksamkeit, Liebe, Anregung und Fürsorge bekommen. (Seite 113)

Das mit der Einbahnstraße hat mich aufmerken lassen. Wenn wir nicht auf unsere eigene Freude achten, auf unsere eigene Begeisterung für das Nudelteigrollen oder für das Verwöhnen mit einem Frühstück, wenn wir den Nachfolge-Willen unserer Kinder aus dem Blick verlieren, wird alles so grau und mühsam. Nichts löst mehr Nachfolge-Willen bei Kindern aus als unsere echte Freude.
Im Wartezimmer habe ich heute diese Skizzen gekritzelt:

Szene 1 a: Immer stärkere Ausrichtung auf das Kind.

 

Szene 1b: … schwächt das Kind.

 

Szene 2a: Sich nicht allein auf das Kind auszurichten …

 

Szene 2b: tut auch und gerade dem Kind wohl.

Immer fröhlich auch an die eigene Freude denken. Dann geht vieles leichter,
eure Uta
PS: Das Mädchen-Buch von Melanie Garanin hat Viola gewonnen. Herzlichen Glückwunsch, liebe Viola! Bitte maile mir deine Adresse!

  • Liebe Uta,
    was für ein schöner Artikel!
    Ich mache oft die Erfahrung, dass Singen hilft, um mir Leichtigkeit und Entspannung in eine Situation zu holen, wenn ich merke, ich bin gestresst/ genervt. Oder einfach Lachen, mich auf die Kinderperspektive zu begeben, etwas ins Komische ziehen. Und dann geht vieles leichter.
    Und ein speziell-essendes Kind habe ich auch… vielleicht mache ich auch mal Tortellini, darin lässt sich ja auch allerhand Gesundes verpacken… ;o)
    liebe Grüße
    Veronika

  • Ich musste gerade so schmunzeln bei deinem Satz: „Ich dachte, ich könnte darüber schreiben. Und dann dachte ich, ich könnte das sogar leben.“ Jaa, auch uns Familien-Bloggern fällt das nicht immer leicht. Danke für diese ehrlichen Worte.
    Und toll, dass dir das so gut gelungen ist mit dem Frühstück und den gemeinsamen Terminen. Lebensfreude ist tatsächlich sehr ansteckend, gerade im Umgang mit dem Kind. Und sie macht viel mehr Spaß als Nörgeln und Meckern.
    Danke dir für deine Inspiration, immer wieder.
    Christina

  • Liebe Uta,
    bei uns ist gerade ganz viel am Gären mit Schule und Pubertät und so. Und oben drauf kommt: Die Kinder waren – alle nacheinander – 6 Wochen lang krank, einer sogar im Krankenhaus, eine muss noch Fachärzten vorgestellt werden, um irgendwelche – ich will gar nicht dran denken – fiesen chronischen Leiden auszuschließen.
    Ich renne gerade meinem eigenen Leben total hinterher, mein Mann auch – unsere Gespräche drehen sich gerade n ur noch um Orga und Absprachen und wer bleibt beim kranken Kind und vertritt das vorm Arbeitgeber. Und klar denke ich, wie schön es wäre, alles leichter zu nehmen und sich nicht hetzen zu lassen vom Leben, dass alles auch eine Entscheidung von MIR ist, wie ich die Dinge sehen und bewerten will. Aber es _ist_ so verdammt schwer. Lebensfreude ist ansteckend, ja. Im Alltag vergesse ich es dann doch und stelle mein Kind an der Kasse vom Karstadt in den Senkel, weil es sich ewig nicht entscheiden konnte, ob es jetzt eine Playmofigut oder lieber doch was anderes haben möchte und sich dann nach gefühlten Stunden beschließt, gar nichts zu kaufen. (Und ich will eigentlich nur nach Hause… „chillen“ und den Großen nicht so ewig alleine lassen.) 5 Minuten später tut es mir leid und ich denke an deinen Artikel und denke, ach, dass hättest du jetzt aber auch mal mit Humor nehmen können. Warum nur ist mir der so abhanden gekommen?! Es ist schlimm.
    So habe ich – leider, leider – deinen Beitrag nicht als Bestätigung oder Inspiration, sondern als Quelle für ein schlechtes Gewissen erlebt. Aber das ist ja nicht deine Schuld! Ich möchte gerne wieder mehr lachen und Quatsch mit meinen Kindern machen. Ich weiß halt nicht, wie… Ich mecker viel zu viel!
    gesteht die SteffiFee

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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