Wenn ein Kind genau weiß, was es will 

 04/02/2020

Ideen aus einem neuen Buch von Jesper Juul

Von Jesper Juul ist postum das Buch „Dein selbstbestimmtes Kind. Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben“ erschienen .
„Autonome Kinder“, gefühlsstarke Kinder“, „hochsensible Kinder“ - erst dachte ich, es ist wenig hilfreich, mit einem weiteren Label zu arbeiten. Auch Jesper Juul hat wohl länger gezögert, bevor er dieses Buch schrieb. Ich finde aber, dass es Eltern auf wertvolle Weise unterstützen kann. Als ich gestern darin las, durchströmte mich wieder diese tiefe Entspannung, die nur Juul-Sätze bei mir erreichen. „Respektiere dein Kind!“, „Respektiere deinen Mann!“, „Respektiere dich selbst und deine Bedürfnisse!“ - so raunt es mir zwischen den Zeilen zu und das tut so gut.

Das Buch besteht aus einer Einleitung von Jesper Juul und 31 Briefen, die Eltern an ihn geschrieben haben, sowieso seinen eher kurzen Antworten darauf. Da ich Beispiele immer verschlinge („Die Wahrheit ist konkret.“), liest sich das Buch schnell, aber dennoch mit Gewinn. Sicher ist es für viele tröstlich zu erfahren, womit andere Familien sich so rumschlagen und wie sie einen Weg daraus finden. 

Eine, die ganz genau weiß, was sie will.

Die Kinder, die der verstorbene dänische Familientherapeut als „autonom“ bezeichnet, sind nicht unglückliche, kleine Wüteriche. Vielmehr sind es Kinder, die früh und klar zeigen, was sie wollen. Klar kommt es bei ihnen auch mal zu Wutausbrüchen, wenn die Erwachsenen einfach nicht kapieren, was sie schon allein können und wollen. Aber so wie ich Juul verstanden habe, zeigen sie eher diese überreife Klarheit als eine chronische Unzufriedenheit oder kaum steuerbare Emotionalität.

Die „autonomen Kinder“ grenzt er von Folgenden ab:

Jesper Juul

In den letzten zwanzig Jahren hat es nicht an Horrorgeschichten von Großeltern, aus Kindergärten und Schulen gemangelt, die von Kindern handeln, die ihre Eltern ebenso wie alle anderen in ihrer Reichweite tyrannisieren, stets im Mittelpunkt stehen und von vorne bis hinten versorgt werden wollen. Kinder, die of als ‚kleine Tyrannen‘ und als vollkommen ‚unerträglich‘ im Umgang bezeichnet werden. Selbst die Eltern haben irgendwann genug und gleichaltrige Freunde wenden sich ab. Doch diese Kinder sind nicht autonom, sondern vernachlässigt, und ihr tyrannisches Verhalten geht auf Eltern zurück, die nach bestem Wissen und Gewissen versucht haben, alle Bedürfnisse und unmittelbaren Wünsche ihrer Kinder zu erfüllen - freilich ohne sich des Unterschieds zwischen den grundlegenden Bedürfnissen und den momentanen Wünschen ihrer Kinder bewusst zu sein.“ (Dein selbstbestimmtes Kind, Seite 15/16)

Die Erwachsenen in Juuls Beispielen dagegen schaffen es, den Wünschen ihrer Kinder Gehör und Raum zu geben, ohne sie alle zu erfüllen. Da ist der Vater, der zum Sohn sagt: „Du möchtest, dass ich dir heute Abend vorlese und dich ins Bett bringe? Das tue ich gerne. An welche Zeit hattest du gedacht?“ - „Um 9 Uhr.“ - „Das ist mir zu spät. Um 9 Uhr bin ich zu einem Telefonat mit meinem alten Schulfreund Richard verabredet. Halb 9 kann ich dir anbieten.“ - „Abgemacht.“

Autonome Kinder, so Juul - sollten die Familie nicht steuern dürfen. Und sie hätten auch kein Interesse daran. „Falls dies geschieht, liegt es daran, dass die Eltern sich steuern lassen - beispielsweise aus Angst vor Konflikten. Sollte das der Fall sein, müssen sich die Eltern ihre Führungsrolle bewusst machen, …“ (Seite 23).

Der Grat zwischen momentanen Wünschen und grundlegenden Bedürfnissen ist natürlich schmal. Und in dem Buch „Dein selbstbestimmtes Kind“ wird auch nicht so getan, als wäre das einfach zu unterscheiden. Wie viel Raum braucht mein Kind? Und wann wird es für mich oder den Rest der Familie zu viel, welchen Raum es beansprucht? Das sind Fragen, auf die jede Familie durch Ausprobieren und Herantasten höchst individuelle Antworten findet. Wichtig ist, dass man darüber von Zeit zu Zeit in Ruhe ins Gespräch kommt und dass es die Eltern sind, die den Raum schließlich erweitern oder stärker begrenzen.

Was ich mitnehme aus dem Buch:

* Als Erwachsene die Richtung vorgeben, aber im Detail Wahlmöglichkeiten lassen. Juul nennt das „Angebote aufs Büfett stellen“.


* Zum Beispiel: - Wir fahren heute zu Tante Monika (steht nicht zur Diskussion) und du darfst aussuchen, welches Hörbuch wir im Auto hören. - Wir gehen jetzt alle in den Wald (keine Diskussion) und du darfst bestimmen, welchen der drei Rundwege wir wählen.* - Vor dem Schlafengehen werden die Zähnen geputzt (feste Regel) und du darfst im Drogeriemarkt eine Zahnbürste aussuchen, die dir gefällt.


* Die Wahlmöglichkeiten machen aus dem Gegeneinander ein Miteinander. Das verändert die Schwingungen zwischen Eltern und Kindern komplett.


* Auf Belehrung verzichten und so für Gleichwürdigkeit sorgen. Die Vorträge, wie wichtig das Zähneputzen, die frische Luft und die Kontakt-Pflege zu Tante Monika ist, kann man sich sparen.


* Juul empfiehlt, mit dem Wort „Lust“ vorsichtig umzugehen. „Nimm dir für die Fahrt, das Hörbuch, das du willst.“ statt „auf das du Lust hast“. Es gehe hier um Selbstbestimmung, nicht um das Lustprinzip.


* Wenn du als Mama oder Papa deinem Kind ein Angebot machst („Ich kann dir anbieten, dass ich Tante Monika frage, ob du an ihrem Klavier spielen darfst.“), ist es ganz wichtig, es nur ein einziges Mal zu sagen. Die Wiederholung signalisiert sonst, dass du dem Kooperationswillen des Kindes oder deiner eigenen Glaubwürdigkeit misstraust.


* Häufig lässt Juul in seinen Beispielen die Eltern eine Pause im Gespräch machen. „Wenn du weißt, ob du deine Freundin Lisa oder lieber Zoe zu Tante Monika mitnehmen willst, sage mir bis heute Abend Bescheid.“ Das ähnelt meinem Tipp, einen Raum zu lassen zwischen Reiz und Reaktion, ein hilfreiches Werkzeug, weil es zum Ausdruck bringt, dass ich das Kind und seine Überlegungen ernst nehme. (Nicht vergessen, am Abend nachzufragen!)


* Und es ist nicht verkehrt, dass Kinder am Vorbild ihrer Eltern lernen, dass man manchmal Zeit braucht und sich nach innen wenden muss, um zu wissen, was man wirklich will.


* Gut finde ich Jesper Juuls Hinweis zur Kommunikation. Er meint nicht mehr Verhandlungen oder Diskussionen, sondern mehr Dialog. (Seite 72) Also wirkliches Zuhören und aufrichtige Mitteilungen statt rechthaberische Schlagabtausche und sinnloses Kräftemessen.


* Und als letzter Punkt ein Zitat, das mir ganz wichtig ist. 

 Jesper Juul

Erwachsene sollten in der Lage sein, in Übereinstimmung mit ihren eigenen Zielen und Werten zu handeln, statt nur auf das Verhalten ihres Kindes zu reagieren.“ (Seite 74)

Kurz & knackig

  • Die wichtigen Entscheidungen treffen die Eltern.
  • Auf der Ebene darunter lassen sie Wahlmöglichkeiten.
  • Auf Belehrungen verzichten sie.
  • Sie unterbreiten ein Angebot nur einmal.
  • Sie lassen dem Kind bei komplizierteren Sachen Zeit, bis es weiß, was es will.
  • Sie führen Dialoge statt sich in Diskussionen und Verhandlungen zu verkämpfen. 
  • Sie setzen auf Gleichwürdigkeit, statt den Bedürfnisses des Kindes allzeit Vorrang zu geben.

Aber wann kann man ein Kind als „autonomes Kind bezeichnen“? Das fragen auch die Eltern, die sich in Briefen an Juul gewandt haben. Die beschriebenen Kinder sind solche, die schon im ganz zarten Alter wussten, dass sie am Tag x keine Windel mehr brauchten, am Tag y kein Lätzchen mehr tragen wollten oder partout nicht an der Hand gingen. Und die sehr bestimmt bei ihrer einmal e ingeschlagenen Linie bleiben. Das sind jetzt nur Beispiele. Es kann auch in ganz anderen Situationen zu Tage treten. Es geht um die Gewissheit, die diese Kinder bei bestimmten Entscheidungen ausstrahlen.
Messbar ist das natürlich in keiner Weise, ob das Kind als besonders autonom eingestuft werden kann oder nicht. Das spielt - in meinen Augen - auch keine Rolle, weil ich es sowieso für angemessen halte, jeden kleinen Menschen als autonom zu betrachten und zu behandeln.

Immer fröhlich die Autonomie achten,

Eure Uta 

* Natürlich sollte es bei Kindern - ich sage mal - ab etwa zehn Jahren auch die Möglichkeit geben, nicht mit in den Wald oder zu Tante Monika zu kommen. In Juuls Buch und auch in diesem Beitrag geht es überwiegend um kleinere Kinder. 

Ich danke dem Kösel-Verlag sehr herzlich für das Rezensionsexemplar!

Photo by Johan Bos from Pexels

Werbebeitrag wegen unbezahlter Verlinkung zu einem Buch. 

  • Das Beispiel mit dem ins Bett bringen ist so schön! Die Antwort des Vaters empfinde ich als sehr respektvoll, seinem Kind und auch sich selbst gegenüber.
    Ich werde mal mehr darauf achten, wieviel Raum ich wann gebe und ggfs. ein paar Stellschrauben drehen. Danke!

  • Liebe Uta,
    vielen Dank für die Buchvorstellung. In deinen aktuelleren Beiträgen geht es ja derzeit immer mal wieder um das Thema Führung. Das passt perfekt zu meiner derzeitigen „Entwicklung“. Ich bin im ersten Jahr sehr gut gefahren mit einer bedürfnisorientierten und einer bindungsorientierten Haltung, merke aber bei meinem 17 Monate alten Sohn immer mehr, dass es nicht mehr das ist, was wir beide brauchen, um gut zusammen zu leben (wir sind zu zweit, ich bin Solomama und er ein Spenderkind). Deswegen bin ich derzeit auf der Suche nach Literatur, die mir da Denkanstöße liefern kann. Deine Empfehlungen helfen mir da sehr – ich habe auch das Buch von Rita Messmer bestellt – danke dafür.
    Ich bin ein großer Fan von Jesper Juul aber die Menge an Büchern erschlägt mich irgendwie. Ich möchte in meiner Freizeit auch noch was anderes tun als über Eltern-Kind-Beziehungen zu lesen.
    Deswegen vielen Dank für die Empfehlungen in deinem Buch „Doch“ und die Besprechung hier.
    Ich hatte mich schon gefragt ob mein Sohn sehr autonom ist, dann aber auch vermutet, damit wären eher „wütende“ Kinder gemeint. Deine Rezension bestärkt mich in der Ansicht, dass dieses Buch gut zu uns passen könnte und wenn es dabei auch um Führung und klare Haltung geht, ist es Möglicherweise genau das, was ich gerade suche. (auch interessant, dass ich gerade auf deinen Blog gestoßen bin, in dem es derzeit viel um Führung geht, während mich dieses Thema selbst so beschäftigt. Ich bin ja überzeugt davon, dass wir immer zur richtigen Zeit die richtigen Impulse bekommen, wenn wir dafür offen sind).
    Nur noch kurz zu meinem Sohn. Wir hatten erstaunlich schnell eine gute Stillbeziehung etabliert. Er trank allerdings sehr selten. Nahm aber gut zu. Für mich war das alles perfekt. Als er mit drei Wochen stationär ins Krankenhaus musste, ging es auch um das Thema Stillen. Ich wurde gefragt wie häufig er trinkt und dann wurde „entschieden“, das sei zu selten und er solle öfter trinken. Ich habe mich nicht verunsichern lassen und gesagt, dass mein Sohn nicht trinkt (nicht mal an der Brust nuckelt), wenn er keinen Hunger hat und dass, wenn man ein „Stillen nach Bedarf“ propagiert, man auch akzeptieren muss, wenn das Kind entscheidet, einen seltenen Bedarf zu haben.
    Gesundheitsbedingt wurde bei ihm dann jede zweite Stillmahlzeit durch eine Flaschenspezialnahrung ersetzt. Mit neuen Wochen hat er dann entschieden, dass er lieber nur noch aus der Flasche trinken möchte. Mit acht Monaten wollte er gar keine Milchflasche mehr (auch nichts anderes aus der Flasche und die Milch auch nicht aus einem anderen Gefäß). Er hat sehr gerne und mit großem Appetit seine Breimahlzeiten gegessen (in die die Milch dann längere Zeit noch von mir untergerührt wurde).
    In anderen Bereichen findet sich das auch. Gar nicht wütend, immer mit einem Lächeln auf den Lippen aber sehr bestimmt. Also ja, ich nehme an, er ist ein „autonomes“ Kind.
    Viele Grüße Rebecca

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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