Wenn Kinder nicht lesen und keinen Sport treiben 

 12/06/2013

Wir machen uns schon seit Jahren Gedanken, weil Prinzessin (12) so wenig liest.
Seit Dienstag, 4. Juni 14:45 Uhr Ortszeit, sieht es in ihrem Bett so aus.

 

Sie verschlingt einen „Top-Secret“-Band von Robert Muchamore nach dem anderen. Nicht dass ihr jetzt die Bücher kauft und sie wie Köder bei euch auslegt. Das hatten wir längst gemacht. Seit Jahren stehen die Bände drei Meter Luftlinie von Prinzessin im Zimmer ihres Bruders zum Lesen bereit. Aber sie hatte sie nicht angerührt. Es brauchte die Empfehlung ihrer Freundin, um diesen Lektüre-Schub auszulösen.

Vor etwa einem Jahr machten wir uns Gedanken, weil Kronprinz (15) wenig Sport trieb, aber umso mehr Chips aß. Der Soßenkönig brachte schon mal ein Laufmagazin nach Hause und legte es dezent ins Wohnzimmer. Aber wir haben nichts dazu gesagt. Höchstens der Soßenkönig. Der ließ hin und wieder mal eine Bemerkung zum Fettgehalt von Kartoffel-Chips fallen. Aber das liegt nur daran, dass er kein „Vertrauenskärtchen“ in der Gesäßtasche mit sich herumträgt wie seine pädagogisch wertvolle Gattin.

Zugegeben, wenn wir Eltern vom Joggen zurück kehrten, konnte es sein, dass wir erwähnten, wie wunderbar wir uns nach dem Laufen fühlten, welche Krebsrisiken wir gesenkt und wie viel Fett wir gerade verbrannt hätten.

Aber damit haben wir auch aufgehört. Denn Prinzessin hat gesagt, dass meine Brauen hoch gehen, die Augäpfel hervortreten und ich furchtbare Falten bekomme, wenn ich so manipulativ-missionarische Bemerkungen mache.

Kronprinz hat gar nicht zugehört, was diese „Wir-leben-ja-so-gesund-Eltern“ von sich gaben und verschwand in der Regel mit Chips und Softdrinks nach oben vor den Computer.

Die Monate gingen ins Land. Und bei mir hat das etwas nach gelassen mit dem Laufen, aber seit drei Wochen läuft … Kronprinz: Viermal die Woche, mindestens zehn Kilometer, inklusive Klimmzüge auf nahegelegenem Sportplatz.

„Was ist passiert?“, fragte der Soßenkönig. Schulterzucken bei mir. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

 

Was sind wir Eltern kleinmütig.

Jeden Tag sind wir zusammen mit Menschen voller Möglichkeiten und wir sehen nur, was noch fehlt.

Wir sollten ihnen Kraft und Zutrauen geben für ihre Vision von Leben und geben uns zufrieden mit Visiönchen für das nächste Schuljahr.

Unser Zusammensein ist oft von Ängstlichkeiten geprägt. „Hast du den Mathezettel dabei? Muss ich die Deutscharbeit noch unterschreiben? Vergiss dein Sportzeug nicht!“

Wir stecken sie an mit unseren Sorgen, statt ihre Begeisterung für was auch immer zu teilen.

In seinem kleinen Buch „Beziehungen“ schreibt Neale Donald Walsch an einer Stelle von Menschen, die es im Leben zu Meisterschaft gebracht haben.

Solch eine Person, „sieht Sie an, sie schaut in Ihre Augen und sieht Sie so, wie Sie selbst sich nicht einmal in Ihrer Phantasie sehen. …Wenn wir eine Beziehung auf diese wunderbare Weise angehen, transformieren wir unsere ganze Erfahrung von uns selbst und unsere Erfahrung mit den von uns geliebten Personen.“

(Neale Donald Walsch: Beziehungen. Wegweisungen für den Alltag. München 2000, S. 35)

Für den Alltagsbezug muss ich an dieser Stelle auf meinen dicken Zeh links zu sprechen kommen.
Er macht mir seit Jahren Probleme, weil sein Nagel immer wieder schmerzhaft einwächst. Deshalb musste ich Fußpflege in Anspruch nehmen.

Unter Fußpflegerinnen wie auch unter Hebammen (auf Französisch heißt Hebamme „sage-femme“ = weise Frau) finden sich Meisterinnen der Lebenskunst. Frau A. in Stuttgart war so jemand und meine aktuelle Frau G. ist – was Weisheit angeht – ein ähnliches Kaliber.

Ich kann jetzt gar keine Sprüche von ihr zitieren, kenne auch die Zusammensetzung ihrer Fußsalbe nicht. Aber wenn Frau G. da ist, habe ich nicht nur das Gefühl „Ich bin in Ordnung, so wie ich bin.“ Nein, viel mehr. Frau G. scheint mehr in mir zu sehen, als ich selbst. Ein unglaublich berauschendes Gefühl.

Können wir nicht selber so sein zu unseren Mitmenschen? Können wir nicht solche Meister sein für unsere Kinder? Können wir nicht die sein, die mehr in ihnen sehen als sie selbst? Was hindert uns bloß?

Immer schön fröhlich ein Meister sein

Uta

  • Oh wie schön!! Nicht nur klasse geschrieben, auch mit berauschendem Inhalt! Ich muss mir unverzüglich eine Fusspflege gönnen, einen Packen Vertrauenskärtchen zulegen und versuchen, die in mir schwelenden bergartigen Visionen für das nächste Schuljahr meines Sohnes einzudämmen (oder besser ganz begraben?)!
    Herzlichst Rite

  • Wieder mal ein benso schöner Beitrag wie der über die persönliche Integrität, der mich zu meinem heutigen Post inspiriert hat.
    Gerade nach meinem heutigen Termin mit Lehrerin und Förderlehrer muss ich mir auch an die eigenen Nase packen, denn ich wurde darauf hingewisen, meinen Sohn zu sehr zu loben, so dass er denken würde, er müssen sich nicht mehr anstrengen. Es fehle ihm die Eigenmotivation, weil ich ihn ja auch so toll genug fände. Wie man es macht, macht man es verkehrt?

    Das Gefühl eigenartig zu sein transormiert sich ja im Laufe der Jahre – Verzweiflung als Kind, Trotz als Teenager – Gelassenheit als Späterwachsene. Zu etwas Außergewöhnlichem wird es ja erst durch die Menschen drumherum stilisiert, denn würde jeder mensch in seiner eigenartigkeit als völlig normales Puzzleteil der Gesellschaft akzeptiert, dann würde sich niemand deshalb minderwertig, oder aber als etwas gang Besonderes, Auserwähltes vorkommen. Minderwertigkeitskomplexe und Narzissmus – beides ist nämlich doof.

    Herzlich, Katja

  • Zu sehr loben? Wenn ich ehrlich anerkenne und an die Möglichkeiten meines Kindes glaube, gibt es kein zuviel. Ich finde diese Rückmeldung der Lehrer an die Mutter sehr sonderbar.

    Danke Katja, danke Rite für eure Kommentare

    Uta

  • Hallo Uta!

    Wieder ein toller Blogeintrag, danke!
    Leider funktioniert bei mir der Link zu den Vertrauenskärtchen nicht – die interessieren mich sehr 😉

    Herzlichst
    Lilara

  • Schade, der Link zu den Vertrauenskärtchen ist mir versperrt, Blogger erlaubt mir den Zugriff nicht (eingeloggt bin ich). Ob Du da was machen kannst, Uta?

    Zuviel loben – doch, geht in gewisser Weise. Ich habe mal einen meiner eher schwachen Schüler gelobt und unter eine Arbeit „Weiter so!“ geschrieben – das führte anfangs zu Nichtstun, weil ich doch schließlich gesagt hatte, dass es so in Ordnung ist (so hat der Schüler meinen Kommentar gelesen). Nach einem Gespräch mit dem Schüler wusste er dann, was ich meinte (natürlich, dass er weiterhin so tüchtig üben soll, weil das Früchte trug) und konnte entsprechend arbeiten.

    Ich glaube schon, dass man einen deutlichen Unterschied zwischen den vorhandenen/nicht vorhandenen Fähigkeiten und dem „So-Sein“ eines Menschen machen muss, dann geht auch das Loben nicht nach hinten los.

    Beispiel für „schlechtes“/“gutes“ Loben: wenn ich jedes Bild, das mein Kind malt, über den grünen Klee lobe, könnte das Kind auf die Idee kommen, ich hielte es für den nächsten Picasso (oder natürlich auch auf die Idee, dass die Mama einen an der Klatsche hat ;-)). Wenn ich aber sage, wie toll ich es finde, dass es so lange an der Arbeit geblieben ist, dass Oma Hildegard gut getroffen ist, mir der Wald besonders gut gefällt usw. – dann merkt mein Kind, dass ich mir das Bild genau ansehe, dass ich die gut gelungenen Stellen bemerke, vielleicht auch Fortschritte erwähne usw.

    Und was uns hindert? Da verallgemeinere ich jetzt mal schamlos und behaupte, dass es da um Angst geht. Angst, ausgegrenzt zu werden, keinen Job zu bekommen, kein Geld zu haben, auf der Straße zu stehen, keine Freunde zu haben usw. Ein ängstlicher Mensch lässt sich gut manipulieren.

    Hast Du mal versucht, eine Tageszeitung zu kaufen, in der nur gute Nachrichten stehen? Wir werden doch mit all dem, was so schiefgehen kann, bombadiert (Fernsehen, Internet, Radio, Zeitung) – kein Wunder, wenn wir dann aus Angst, dass uns „sowas“ auch passieren könnte, das machen, was regelkonform usw. ist.

    Liebe Grüße
    Jorin

  • Liebe Uta,
    wieder so toll und: Volltreffer. Immer sieht man bzw. ich nur das, was doof ist oder eben noch nicht „da“ ist. Ich habe mal Stimmtherapie verschrieben bekommen und bin auch bei einer Frau G „gelandet“. Eine ganz ganz tolle Frau, bei der es mir immer super ging. Allein durch ihre Art und die Sicht auf die Dinge.
    Und zum zu viel Loben habe ich mir (natürlich!) auch schon oft Gedanken gemacht. Ich lobe, wenn angebracht, sehr viel, um meine Lütte zu stärken. Manchmal habe ich mich dann gefragt, ob das nicht zu viel ist. Und gerade neulich beim Arzt wurde sich nach meiner Tochter erkundigt und ich erzählte von meinen Ängsten. Als Antwort bekam ich:“ zu viel geht nicht! Wenn’s ehrlich ist.“Also lobe ich weiter viel.
    Dich auch. Tolles Posting! Weiter so!
    LG Dorthe (ich laufe richtig zu Hochtouren auf, was das Kommentieren angeht, nech?)

  • Was uns hindert hast du gefragt? Der Abstand wäre meine blitzschnelle Antwort. Fremde sehen uns einfach, haben einen Eindruck und reagieren, wenn sie Charisma haben auch so, dass wir sie spüren.
    Ich hatte ein Gespräch im letzten Jahr mit der Tochter einer Nachbarin. Dieses Mädchen war an dem Tag geknickt und ich habe nachgefragt. Es kam heraus, dass sie den Sprung auf eine höhere Schule nicht geschafft hat. Für mich ein Wunder, denn sie macht einen gebildeten, zuverlässigen und ehrgeizigen Eindruck. Ich habe lange mit ihr gesprochen und ihr gesagt, dass ich fest an sie glaube, dass sie den Sprung nach dem Probehalbjahr schafft. Ich hoffe es hat gewirkt. Ich bin heute nur mit einem guten Abschluss gesegnet, weil ich so eine Erfahrung in Frankreich gemacht habe – alle dachten ich wäre gut in der Schule(psst, ich wars nicht). EIn Jahr später, als mein Gegenbesuch kam hatte ich gute Noten – einfach, weil jemand ganz fremdes mich gut fand – einfach so.

    Dass Eltern ein Kind lieben ist für viele normal – Gott sei Dank! Dass sie sich Sorgen machen auch – aber es ist wie das tägliche Brot – was anderes schmeck manchmal sehr viel besser. Und so ist es mit diesen Erlebnissen mit anderen Menschen, die man gar nicht kannte – es wirkt einfach stärker. Ich wünsche mir, dass andere Nachbarn oder Menschen meine Kinder auch mal so bestärken – ich hoffe es sehr für sie!;-)

    Also, alle rundum bestärken!*lach

    Liebe Grüße LOLO

  • Ich danke dir von Herzen für diesen tollen Post,denn er hat mir wieder gezeigt,dass ich auf dem richtigen Weg bin ,mit mir und meinen Kindern,VERTRAUEN ! Immer wieder…Liebe Grüße,Silke Schmidt!

  • Herzlich gelacht habe ich bei:

    „Aber damit haben wir auch aufgehört. Denn Prinzessin hat gesagt, dass meine Brauen hoch gehen, die Augäpfel hervortreten und ich furchtbare Falten bekomme, wenn ich so manipulativ-missionarische Bemerkungen mache.“

    Sehr schön!

    Ich bewundere Eure Gelassenheit und euer Vertrauen. Gut, dass meine Herzbuben noch so klein sind. Da habe ich noch etwas Zeit, im Kleinen zu üben.

    Liebe Grüße,
    Frieda

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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