Meine Sinn-Suche und die japanische Lebenskunst 

 14/06/2022

Warum die "Fokussierungs-Illusion" uns künstlich unglücklich macht

Seit geraumer Zeit suche ich nach einer neuen Aufgabe. Nicht, dass es in Haus und Hof und beim Ausbau meines Coaching-Angebots nicht genug zu tun gäbe. Aber es sollte etwas Großes sein. Etwas, das mir das Gefühl gibt, von vielen Menschen gebraucht zu werden. Einen Bestseller schreiben? Als Coach bei einem großen Unternehmen anheuern? Einen neuen Anlauf für einen Podcast nehmen?

In unserem Urlaub in Dänemark hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich lief morgens am Strand entlang. Das schaumige Auslaufen der Wellen im Sand ließ eine unfassbar schöne Oberfläche zurück. Das Meer glättet jede Verwerfung an seinem Saum, poliert die Steine, entstaubt die Muscheln und lüftet die Menschen-Köpfe. So auch meinen. Ich habe meine Unzufriedenheit, die mich vor dem Urlaub umtrieb, in der Nordsee vor Jütland gelassen.

Das Buch "Ikigai"

Das habe ich nicht nur dem Meer, sondern auch dem Buch "Ikigai. Die japanische Lebenskunst" von Ken Mogi zu verdanken. Die Kinder haben es meinem Mann geschenkt und er hat mir in unserem Häuschen hinter den Dünen daraus vorgelesen. "Ikigai" bedeutet so viel wie "das, wofür es sich zu leben lohnt". Es ist eine Philosophie, die tief im japanischen Alltag verwurzelt ist. Der Hirnforscher Ken Mogi hat darüber geschrieben, wie sich die Japaner von diesem Prinzip leiten lassen. Dabei bilden fünf Säulen das tragende Gerüst.

  1. Klein anfangen
  2. Loslassen lernen
  3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben
  4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken
  5. Im Hier und Jetzt sein

Es bedeutet, jede Aufgabe, die sich einem stellt, mit Liebe anzugehen. Das muss nicht das Schreiben eines Bestsellers sein. Es geht auch um die kleinen Aufgaben. Das Zusammenlegen der Kleider, das Fegen der Terrasse oder das Raspeln einer Möhre. So sah man meinen Mann nach der Lektüre eines neuen "Ikigai"-Kapitels mit Hingabe Kartoffeln in ebenmäßige Streifen schneiden und in Öl frittieren. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass diese selbst gemachten Pommes samt Salat  köstlich waren. 

Mogi erzählt in seinem Buch von Jiro Ono, dem Chef des berühmten Sushi-Restaurants Sukiyabashi Jiro, in dem auch Präsident Barack Obama bei seinem Staatsbesuch 2014 in Japan gegessen hat. Der inzwischen 96 Jahre alte Ono verkörpert mehrere Ikigai-Prinzipien. Zum einen widmet er sich jedem Arbeitsschritt mit großer Hingabe, hat über die Jahrzehnte die Techniken der Fisch-Zubereitung immer mehr verfeinert und es mit dieser Exzellenz zum ältesten Drei-Sterne-Koch der Welt gebracht. Zum anderen ist er klein angefangen. Als junger Mann hat er ein einfaches Lokal gegründet, um über die Runden zu kommen. Mit Liebe zu seinem Metier und ungeheuerlicher Beharrlichkeit hat er es schließlich geschafft, dass sein Restaurant als das beste Suhsi-Restaurant der Welt gilt. Aber um die Berühmtheit scheint es einem echten Ikigai-Anhänger gar nicht zu gehen, wenn er - wie Ono - eine Stunde lang Oktopusfleisch massiert, damit es schön zart wird. "Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge. Die Morgenluft, die Tasse Kaffee, der Sonnenstrahl, das Massieren von Oktopusfleisch und das Lob eines amerikanischen Präsidenten sind gleichberechtigt. Nur diejenigen, die den Reichtum dieses gesamten Spektrums erkennen, schätzen und genießen es wirklich." (Ken Mogi: Ikigai, die japanische Lebenskunst, Köln 2022, Seite 18/19)

Glück scheint in der Ferne zu liegen

Ich bin ja eine Ikigai-Anfängerin. Deshalb tappe ich in die Falle zu glauben, wenn ich dieses oder jenes erreicht hätte, dann wäre ich richtig, richtig glücklich. In meinem Fall handelt es sich um Ziele wie 'das Geheimnis der Liebe wirklich zu ergründen', 'einen "Spiegel"-Bestseller' zu schreiben' oder 'einmal im Leben braune Beine zu haben'. Nennt diese Ziele ruhig Luxus-Ziele. Ich weiß, andere Menschen sehnen sich nach viel elementareren Veränderungen in ihrem Leben. Sie sind fest überzeugt, sie könnten glücklich sein, wenn sie nur den richtigen Partner/Studienplatz/Job ... finden würden. Das Prinzip ist aber das Gleiche. Wissenschaftler bezeichnen dieses Phänomen als "Fokussierungs-Illusion". Menschen würden zu dem Glauben neigen, ganz bestimmte Dinge im Leben seien notwendig für Glück, auch wenn sie es in Wahrheit gar nicht sind. 

Mit einer Fokussierungs-Illusion schafft man sich einen persönlichen Grund dafür, unglücklich zu sein. Das Unglück ist wie ein Vakuum, in dem ein notwendiges Element fehlt; und dieses Vakuum wird von der verzerrten Vorstellung der betreffenden Person erschaffen." (ebd., Seite 157)

- Ken Mogi, Hirnforscher

Gegen dieses Vakuum hilft eine Technik von Martha Beck, der US-amerikanischen Lebensberaterin, deren Bücher ich sehr schätze. Es handelt sich um die "Und-dann"-Untersuchung. Nehmen wir mein Beispiel. In meinem Kopf spukt der Gedanke, ich könnte erst richtig glücklich sein, wenn ich einen Bestseller lande. Martha würde fragen: "Okay, der ersehnte Tag ist gekommen. Ein Buch von dir erscheint auf der begehrten Liste. Und dann?" - "Dann würde ich noch mehr Menschen mit meinen Ideen erreichen." - "Du erreichst doch schon viele." - "Ja, aber dann wären es noch mehr." - Martha fragt beharrlich weiter. "Und dann?" - "Dann würde ich ständig zu Talkshows eingeladen ... Oh, Gott, das will ich gar nicht." - "Und dann?" - "Dann würden mich Verlage drängen, Bücher zu schreiben, die ich gar nicht schreiben will." - "Und dann?" - "Dann hätte ich weniger Zeit, in Ruhe zu schreiben und zwischendurch in der Sonne etwas im Garten zu arbeiten, was ich so liebe."  ... (Idee nach Martha Beck: Enjoy your life. 10 kleine Schritte zum Glück. Frankfurt am Main 2004, Seite 74 - 76)

Seht ihr, schon platzt die belastende Fokussierungs-Illusion wie ein Luftballon! Und man merkt, dass man sich nach dem großen Ereignis verzehrt, nach dem Kompliment von Obama oder dem orangefarbenen Aufkleber auf dem Buch. Dabei ist man glücklich, den Oktopus zu massieren oder auf dem Blog etwas zu schreiben. Und wenn dann Obama kommt oder der Bestseller-Platz - auch schön. 

Immer fröhlich nach dem Ikigai-Prinzip leben,

Eure Uta 

Wegen der Buch-Verlinkungen gilt der Beitrag als Werbung, ist aber unbezahlt. Und die beiden verlinkten Bücher wurden selbst gekauft. 

  • Liebe Uta, wie beruhigend, dass auch du als so erfahrene Coacherin noch Kopfkarussell hast. Vielen Dank für die super Bücher Tipps. Ich lese gerade die 50 Sätze, die das Leben leichter machen, und bin begeistert. Liebe Grüße Domi

    • Liebe Domi, danke für die Rückmeldung! Kopfkarussell habe ich eigentlich ständig :-))). Es freut mich, dass dir das 50-Sätze-Buch gefällt. LG Uta

  • Liebe Uta! Wow, das passt ja wieder! Gerade habe ich einen Roman gelesen, der in Japan spielt und in dem einem die japanische Lebenskunst näher gebracht wird. Außerdem bin ich bei Youtube auf Videos einer Koreanerin (Honeyjubu) gestoßen, die ihren Alltag zeigt. Dort werden alltägliche Dinge, wie kochen oder putzen mit so viel Liebe und Ruhe erledigt, es scheinen meditative Tätigkeiten zu sein. Ich habe daraufhin versucht, auch Dinge achtsamer zu tun. Danke für Deinen Artikel! Ein weiterer Anstoß in diese Richtung 🙏
    Liebe Grüße von Anke 💐

    • Liebe Anke, magst du den Titel des Romans nennen? Der würde mich sehr interessieren. Gerade stoßen mein Mann und ich ständig auf Japan. Neulich sahen wir eine TV-Dokumentation, in der ein 70jähriger Japaner erzählte, wie er im Ruhestand beschloss, Zug-Putzer zu werden. Gerade hatte er wieder einen Shinkansen, einen dieser berühmten Hochgeschwindigkeitszüge, auf Hochglanz poliert und strahlte vor Freude über diese Arbeit über das ganze Gesicht. LG Uta

  • Liebe Uta, hier noch ein kleiner Nachtrag von mir.
    Ich finde, was einen richtig erfüllt, ist das Gefühl zu haben, dass man anderen hilft oder ihnen etwas geben kann. Und es ist wichtig, da auch positives Feedback zu bekommen. Im Verhältnis zu der großen Anzahl an Lesern (mehrere hunderte/Tausende pro Artikel), bekommst Du aber wenig persönliches Feedback (Kommentare). Das bringt das Internet so mit sich. Die allermeisten lesen doch anonym. Aber Uta, wie oft hast Du mir, meinen Freundinnen und Kolleginnen, meiner Physiotherapeutin, der Lehrerin meiner Tochter, meiner Hebamme etc. mit Deinen Beiträgen schon geholfen! Was für einen genialen Fundus an wertvollen Anregungen hast Du hier erschaffen! Deine Bücher sind ein kleiner Wissensschatz und stehen auch in unserer Kleinstadt in der Buchhandlung.
    Ich kann mir vorstellen, eine Tätigkeit, bei der man öfter tatsächliches Mensch-zu-Mensch-Feedback bekommt, kann ein so ein Vakuum füllen. Mit oder ohne Bestseller.
    Sei lieb gedrückt 😊

    • Oh, Anke! Deine Worte tun soooooooo wohl. Ich danke dir von Herzen. Vorgestern habe ich mich um ein Ehrenamt in der Beratung beworben, um einmal in der Woche mehr Mensch-zu-Mensch-Erfahrung zu haben. Mal schauen, wann sie sich melden. Ich drücke dich auch.

  • Danke für den wertvollen Ansatz liebe Uta. Die Wertschätzung für das, was man gerade macht, möchte ich weiter verfolgen. Und mir fällt dazu gerade ein, dass ich es tatsächlich genossen habe heute Vormittag abzuwaschen und vorhin Wäsche aufzuhängen. Der Unterschied zu sonst war, dass ich es mit Zeit gemacht habe und nicht mit „jetzt schnell noch diese lästige Aufgabe“. Und dann frage ich mich, warum habe ich es mit Zeit gemacht – weil mein Körper gerade kein schnell schnell zulässt. So habe ich das noch nicht gesehen. Und wusste es am Anfang dieses Kommentars auch noch nicht. Ich danke dir.
    Alles Liebe
    Sternie

    • Liebe Sternie, danke, dass du von deinem Vormittag erzählt hast. Besonders mag ich den Satz „Und wusste es am Anfang dieses Kommentars auch noch nicht“.😊 Herzliche Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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