Seine Durchlaucht der Müll-Minister 

 13/09/2023

Innere Ordnung in der Familie gibt dem Kind Sicherheit - Wertvolle Ideen aus dem Buch "Die Superkraft der liebevollen Führung"

Das junge Paar in meiner Eltern-Beratung berichtet, dass ihr dreijähriger Sohn regelmäßig beim Frühstück einen Wutausbruch hat, schon bevor er den ersten Happen gegessen hat. Die Eltern erzählen außerdem,  dass sie den Kleinen  jeden Morgen aussuchen lassen, wo er sitzen möchte: Du möchtest heute nicht im Kinderstuhl, sondern auf Papas Platz sitzen? Einverstanden.“ Darüber hinaus lassen sie den Kleinen auch bestimmen, ob Mama heute seine Tischdame zur Linken oder zur Rechten wird. Meist beginnt schon in aller Frühe ein riesiges Theater, weil Papa - gerade aus dem Bad kommend - die aktuelle Tischordnung nicht mitbekommen hat und den ersten schweren „Fehler“ des Tages begeht, indem er sich einfach irgendwo hinsetzt. Das Frühstücks-Drama steigert sich noch, wenn der kleine Mann zwischen fünf verschiedenen Brotaufstrichen wählen soll, aber die geliebte Erdbeermarmelade nicht dabei ist.

Was würden Martina Stotz und Kathy Weber, die Autorinnen von "Die Superkraft der liebevollen Führung", dazu sagen? Wahrscheinlich würden sie sagen, dass Mama und Papa die Chefs in der Familie sind und keine Bedenken haben müssen, festzulegen, auf welchem Platz ihr Sohn jeden Morgen sitzt. Das gibt dem Kleinen Sicherheit. Um gleichzeitig das Bedürfnis des Kindes nach Selbstbestimmung zu befriedigen, dürfte er zwischen - sagen wir - drei verschiedenen Brotaufstrichen wählen. Und schon ist zwar nicht jeder Wunsch erfüllt, aber zwei grundlegende Bedürfnisse des Kindes, nämlich nach Sicherheit und nach Autonomie.

Das Buch ist heute erschienen. Ich durfte es vorab lesen. Herzlichen Dank an den Verlag!

Als ich eine der beiden Autorinnen, Kathy Weber, in einem Interview gehört habe, hat mich ihr Plädoyer für eine klare Hierarchie in der Familie begeistert. Deshalb habe ich ihr Buch bestellt, Wochen bevor es heute erschienen ist.

"Hierarchie"? Bei dem Wort schlucken viele, weil alles und jedes heute "auf Augenhöhe" sein muss. Kathy Weber, Expertin für Gewaltfreie Kommunikation, ist aber unverdächtig, für Familien einen Kasernenhof-Drill zu wollen. Vielmehr geht es ihr und ihrer Kollegin Martina Stotz darum, dass jeder in der Familie seinen Platz kennt und dadurch Sicherheit und Geborgenheit einzieht. So bekommt die Erstgeborene zuerst den Kakao eingeschenkt und dann der kleine Bruder. Das große Kind darf länger fernsehen als der Zwerg. Dafür hat es aber auch schon mehr Pflichten und deckt allein den Abendbrottisch. Das Prinzip ist: die Jungen folgen den Alten, die Unerfahrenen den Erfahrenen. 

Wenn Geschwister 'häufig streiten', ist das in der Regel ein Zeichen dafür, dass die innere Ordnung unter den Geschwistern und/oder in der ganzen Familie nicht harmonisch ist."

Martina Stotz, Kathy Weber, Seite 183 

Ich habe schon erwähnt, dass die Autorinnen nicht nur eine Ordnung nach Alter vorschlagen, sondern auch nach Erfahrung und Kompetenz. So kann es helfen, dass Papa der "Frühstücksminister" ist und dafür sorgt, dass morgens alles auf dem Tisch steht, aber auch entscheidet, dass es eine Woche lang keine Nußnougat-Creme gibt. Das diskutiert auch Mama nicht, denn schließlich ist Papa der Minister in diesem Bereich. Dafür steht Mama dem "Medienministerium" vor und regelt die Zeiten am Tablet. Nils (8), amtiert im September als Müll-Minister, bringt einmal in der Woche den Restmüll raus und wacht über die Altglas-Sortierung. Max (6) wurde feierlich vereidigt als "Minister für Tisch-Dekoration". Er wählt die Servietten aus und bestimmt, wer zum Abendbrot die Kerze anzünden darf. 

Kinder lieben diese Klarheit. Es macht sie stolz, für bestimmte Bereiche allein zuständig zu sein. Während es nicht funktioniert, ihnen bestimmte Pflichten "aufzudrücken", finde ich die Idee der Ministerien einfach zauberhaft. Auch dass die Eltern bestimmte Zuständigkeiten gegenseitig respektieren, nicht jede Kleinigkeit ausdiskutieren, sondern dem jeweiligen Minister und seinen Weisungen folgen, erleichtert das Familienleben enorm. 

Erstmalig auch Bedürfnisse der Eltern ernst genommen

Ich habe jetzt dem Thema "Innere Ordnung der Familie" mehr Gewicht gegeben, als es im Buch bekommt, weil ich dieses Prinzip sehr hilfreich finde und Begriffe wie "Hierarchie" und "Macht" heute in Verruf geraten sind. Deshalb bin ich so dankbar, dass Stotz/Weber schreiben: "Wir möchten den Begriff der elterlichen Macht in ein neues Licht rücken." (Seite 20) Grundsätzlich folgen die Autorinnen den Ideen der Gewaltfreien Kommunikation und der Bedürfnisorientierten Erziehung. Ihr wisst, dass meiner Meinung nach gerade die Philosophie der Bedürfnisorientierten Erziehung ihre Fallstricke hat. Leicht verstehen Eltern falsch, was damit gemeint ist und brennen völlig aus in dem Versuch, es ihren Kindern jederzeit Recht zu machen. Oder sie verlieren sich in einer übersteigerten Angst, die Seele ihres Kindes könne allzu leicht Schaden nehmen. Das zumindest ist mein Eindruck aus zahlreichen Coachings.

In Büchern über die Bedürfnisorientierte Erziehung (BoE) wird zwar pflichtschuldig darauf hingewiesen, dass "natürlich auch die Bedürfnisse der Eltern eine Rolle spielen". Erst liest man, man möge die Wut des Kindes begleiten. Und zwar in einer Weise, die sich garantiert über Stunden hinzieht. Dann betonen die Autorinnen in der Regel, dass die Eltern aber auch auf sich achten müssten.

"Die Superkraft der liebevollen Erziehung" ist das erste BoE-Buch, das ich lese, in dem es schon am Anfang darum geht, wie Eltern ihren Bedürfnissen auf den Grund kommen und sie ernst nehmen können. Wenn ich als Mama merke, dass ich in einem Konflikt mit meinem Kind völlig überfordert bin, leiten Stotz und Weber mich an zu untersuchen, welche Bedürfnisse bei mir gerade auf der Strecke bleiben. Bin ich vielleicht selbst sehr leistungsorientiert und pflichtbewusst aufgewachsen und kriege Panik, wenn mein Sohn die Hausaufgaben hinschludert? Dann hilft mir die Frage nach meinen Bedürfnissen, um zu verstehen, warum ich bei dem Thema schnell überreagiere. Ich kann die Glaubenssätze, die sich in meiner Kindheit gebildet haben, hinterfragen und meinem Sohn entspannter gegenübertreten. 

Anderes Beispiel: Wenn mehr als zehn Kinder zur Geburtstagsparty eingeladen sind und das Fest außer Kontrolle gerät, ist mein Bedürfnis nach Ruhe und Klarheit gestört und ich bin gar nicht mehr in der Lage, liebevoll auf die Kinder einzugehen. Als Schlussfolgerung werde ich das nächste Mal nur eine begrenzte Zahl an Gästen erlauben. "Entscheidend ist", schreiben Stotz und Weber, "dass in einer bedürfnisorientierten Alltagsroutine auch die Bedürfnisse der Eltern berücksichtigt werden." (Seite 16) Und da der Blick auf die elterlichen Bedürfnisse das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht, ist es für mich erstmalig glaubhaft, dass Autorinnen es damit ernst meinen. Man lernt beim Lesen, sich zu fragen, was brauche ich denn gerade, um so liebevoll auf mein Kind reagieren zu können, wie ich es möchte.

In manchen Kapiteln unnötig kompliziert

Für die Ideen, die helfen, den eigenen Konditionierungen auf die Schliche zu kommen, und für das Kapitel zur familiären Hierarchie lohnt es sich, das Buch zu lesen. Unnötig kompliziert fand ich die Unterscheidung von "Schutzschild", "Schützende Gewalt" und "Stellvertretende Kraft". Ich kann mir schwer vorstellen, dass irgendjemand diese Feinheiten in der Hitze des Gefechts abrufen kann. Auch die Aufteilung in Ober- und Unterbedürfnisse (Seite 190) ist mir viel zu verkopft.

Mit "Schützender Gewalt" ist zum Beispiel gemeint, dass ich mein dreieinhalbjähriges Kind festhalte, wenn es mit seinem Laufrad auf die Straße fahren will. Über viele Seiten scheinen die Autorinnen ganz zerknirscht darüber zu sein, dass in dem Fall Gewalt angewendet werden musste. Gewalt in Form von Festhalten. Zum Ausgleich wird empfohlen, das Kind nach dem Schreck in den Arm zu nehmen. Ja, bitte! Das würde ich auch unbedingt machen. Aber dann geht es noch weiter. Als Mantra bekomme ich mit auf den Weg "Ich erlaube mir, mich aktiv um den körperlichen Schutz meines Kindes zu kümmern." Ja, was denn sonst?! Und warum muss ich mir das "erlauben"? Und schließlich soll ich am nächsten Tag ein Ritual zelebrieren, in dem wir uns, also Mama und Kind, wieder "mit Liebe auftanken". Denn die Mama hat ja am Vortag das Autonomie-Bedürfnis des Kindes, ungehindert auf die Straße zu fahren, lieblos beschnitten und dabei auch noch Gewalt angewendet (Festhalten). Äh????

Die hier und in anderen Abschnitten des Buches empfohlenen Reaktionen empfinde ich als völlig übertrieben und künstlich. Und ich bekomme sie überhaupt nicht übereinander mit dem erfrischend klaren Eindruck, den ich von Kathy Weber in dem Interview gewonnen habe, das mich erst auf dieses Buch gebracht hat.

Immer fröhlich sich erlauben, aus Büchern das Beste mitzunehmen.

Eure Uta 

Das Titelbild ist von Vlada Karpovich von Pexels, das Cover-Bild und der Vorabdruck des Buches als PDF vom Beltz-Verlag. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,

    nach einer längeren Pause schaue ich heute endlich mal wieder hier bei dir rein und bin, wie so oft, begeistert 🙂
    Du weißt ja, dass ich auch zum Diskutieren neige … hüstel … und diese Klarheit bei den Eltern hast du uns damals auch empfohlen – was sehr hilfreich war. Ich muss mich nur immer wieder daran erinnern 🙂
    Was mich auch sehr beruhigt, ist deine Auffassung der Auf-die-Straße-fahren-Situation! Da war ich immer schon sehr klar und es gab keine Probleme 😉 doch ich erlebe hier im Viertel immer wieder, wie Kleinstkinder auf die Straße rennen wollen und sehr lieb-säuselnd von den Eltern gebeten werden, das doch besser nicht zu tun … ich verstehe zu gut, dass du mit diesen Textpassagen im Buch nichts anfangen kannst.
    Lieben Dank an dich fürs Einordnen und ganz liebe Grüße! Dorthe

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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