Sich selbst nichts hinzufügen müssen 

 16/07/2021

Über den sinnvollen Umgang mit Zielen.

Heute poste ich einen Ausschnitt aus einem Beitrag, den ich im Juli vor sieben Jahren geschrieben habe. Auch für die ganz treuen Leser ist er nicht so leicht auffindbar. Deshalb bringe ich ihn heute noch einmal, denn er ist für mich so aktuell wie eh und je. Viel Freude beim Lesen!

Ich habe ein Interview mit der englischen Bestseller-Autorin Jojo Moyes („Ein ganzes halbes Jahr“) gelesen. Ihre Eltern hätten ihr immer das Gefühl vermittelt, sagt sie in dem Interview, sie könne alles erreichen, was sie wirklich wolle.

„Wow“, dachte ich, „das will ich auch sofort meinen Kindern vermitteln.“

Als 14jährige hat Jojo Moyes drei Putzstellen angenommen (das wäre bei uns verboten in dem Alter, aber egal) und hat sich von dem Geld gegen den Willen der Eltern ein eigenes Pferd gekauft.

Als Erwachsene dann hat sie getan, was sie am liebsten mag: schreiben. Sie hat geschrieben und geschrieben. Jahrelang von den Lesern und der Welt unbeachtet. Als das Geld nicht reichte, hatten sie und ihr Mann sich schon darauf eingerichtet, ein Zimmer auf ihrer Farm unterzuvermieten.

Aber dann kam der Durchbruch zur Bestseller-Autorin.

Jojo Moyes macht heute immer noch, was sie am liebsten macht: schreiben. Aber sie muss keine Zimmer mehr untervermieten und hat sich von dem Geldregen das Luxusmodell eines Massage-Sessels in die Scheune gestellt. Dort lässt sie sich jeden Abend nach der Schreibtischarbeit durchmassieren.

„Du kannst alles erreichen, was du wirklich willst.“

Ja, das will ich meinen Kindern auch vermitteln. Auch wenn ich ein bisschen bange bin, die Antwort könnte lauten: „Fünf Jahre ununterbrochen mit dem iPad im Bett sitzen.“

Unsere Kinder: einfach vollkommen - so wie sie sind.

Dann stellte ich mir beim dritten Abwasch des Tages die Frage: „Uta, lebst du denn diese Haltung? Hast du erreicht, was du wirklich wolltest?“ 

„Ja, ich habe Familie. Das ist das, was ich wirklich wollte. Ich hätte Chefredakteurin und Herausgeberin des tollsten Magazins der Welt werden können, ich hätte ein Buch schreiben und es signierend um die Welt reisen können … aber ohne meinen Mann, unsere Kinder, Amy, Gulliver und die ganzen Krümel um das Katzenklo hätte ich nicht sein wollen.“

„Ja, Familie hast du seit Jahren“, das Interview mit mir selber ging unerbittlich weiter, „du könntest noch mehr schaffen. Du hast doch seit längerer Zeit ein paar Ziele beruflicher Art, die du beharrlich nicht erreichst.“

Das innere Interview wurde langsam unangenehm. Ja, Ziele können Magneten sein, sie können einen Sog entwickeln und einen auf Spur bringen, aber bei beharrlichem Nichterreichen können sie quälende Mahnmale eigener Unzulänglichkeit werden.

Ich schlug mit der Spülbürste ins Wasser. „Schaumberge, alles bloß Schaumberge.“

Vielleicht sollte ich meinen Kindern solchen Schaum nicht ins Hirn setzen, vielleicht sollten sie lieber kleiner denken von sich und der Welt. Immer schön realistisch bleiben, dann wird man auch nicht enttäuscht.

Wieder schlug ich in den Schaum. „Nein, das kann es auch nicht sein.“

Und ich merkte, dass das mit den Zielen keine Rolle spielt. Man kann sich große Ziele setzen und Kleine, welche, die in der Welt große Anerkennung finden, oder welche, die gar nicht beachtet werden. Wenn das Zielesetzen funktioniert und einen voran bringt, gut. Wenn nicht, auch nicht schlimm. Denn wesentlich ist etwas anderes. Und hier kommt mein Lieblingszitat ins Spiel:

Zu allen Zeiten fühlen Sie sich ganz und vollkommen. Alles, was im Leben passiert, bestätigt Ihre Ganzheit und Ihre Vollkommenheit.

Ron Smothermon

Drehbuch für Meisterschaft im Leben. Bielefeld 2007, S. 253

Meinen Kindern kann ich sagen, dass sie dem, was sie sind, nichts hinzufügen müssen. Kein Schwimmabzeichen, kein 1,0-Abitur, keinen Fußballpokal, keinen Beruf mit Renommee, keine noch so hochfliegenden Ziele.

Wenn sie mit der Gewissheit zu leben lernen, dass sie sich selbst nichts hinzufügen müssen, können sie erreichen, wonach ihnen der Sinn steht. Dann genießen sie Erfolge, verkraften Niederlagen, können das Leben als das betrachten, was es ist: ein großes Spiel.

Soweit ein Ausschnitt meines Beitrag von 2014. Interessant ist, dass ich wenige Wochen später nach etlichen Fehlversuchen einen Verlag für mein erstes Buch gefunden habe. 

Es hat also funktioniert, sich ein Ziel zu setzen und es dann vertrauensvoll innerlich los zu lassen.

Kurz nach Erscheinen lag mein erstes Werk in einer Buchhandlung im Ruhrgebiet gleich neben Jesper Juul. Dank nochmals an meine Freundin, die damals das Foto schickte!

Schlüsse des Tages:

  • Sich Ziele setzen, nicht weil man mit ihrem Erreichen etwas über sich beweisen müsste, sondern weil man eine große Freude daran hat, das Erwünschte in die Welt zu bringen. 
  • Arbeit und Ergebnis als Ausdruck von sich selbst. Und zwar nicht, weil dem, was man ist, etwas hinzugefügt werden müsste, sondern als Entfaltung von innerem Reichtum, der immer schon vorhanden war.
  • Das Leben ist kein Kreuzweg, kein Härtetest, kein Wettkampf. Das Leben ist ein Spiel. 

Immer fröhlich spielen,

Eure Uta 

Beitrag gilt wegen Buch-Verlinkung als Werbung. 

  • Liebe Uta,
    Das man sich selbst nichts hinzufügen muss – das ist so eine schöne Aussage. Zu oft wird heute vermittelt „Du kannst alles schaffen, wenn Du nur willst…“. Doch das ist doch… ganz unter uns gesagt, einfach nur Bullshit. Man kann nicht alles schaffen. Die Ziele müssen zu eigenen Begabungen, den Umständen, der Zeit passen. Und ein bisschen Glück gehört auch immer dazu. Dieser Satz“ Du kannst alles schaffen “ führt doch viel eher zu dem Gefühl der Unzulänglichkeit – wenn man es nicht schafft. Auch bei Krebskranken wird manchmal das Gefühl vermittelt… Wenn Du nur ganz fest daran glaubst, oder jetzt dieses oder jenes machst, dann besiegst Du ihn. Genau das übt aber einen enormen Druck auf die Betroffenen aus. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die kann man nicht oder nur wenig beeinflussen. Aber was wir beeinflussen können, ist unsere Grundeinstellung. Zu uns, zu unserem Leben. Uns selbst zu lieben und die Menschen und das Leben. Und dem ganzen müssen wir nichts hinzufügen. Ach – wenn wir es schaffen, DAS an unsere Kinder weiter zu geben – das wäre großartig!
    Liebste Grüße von Anke ❤️

    • Liebe Anke, danke für deinen Beitrag! Ich finde deinen Satz „Die Ziele müssen zu eigenen Begabungen, den Umständen, der Zeit passen.“ sehr wichtig. Sonst stellt man „die Leiter an die falsche Mauer“ und entwertet sich selbst für Ziele, die man vielleicht gar nicht erreichen sollte. LG Uta

  • Sich selbst nichts hinzufügen, aber sich die Zeit nehmen, sich selbst wirklich kennen zu lernen. Die Fähigkeit entwickeln „in sich rein zu hören“, gut gemeinte Ratschläge auch einfach mal in den Wind schlagen, auch wenn sie von ausgewiesenen Expert:innen kommen.
    Wer sich selbst wirklich kennt und die eigenen Bedürfnisse anerkennt ebenso wie die eigenen Fähigkeiten und Schwächen berücksichtigt, diese Person kann tatsächlich alles schaffen – alles was zu ihr passt!

    • Liebe Rebecca, „sich selbst wirklich kennen zu lernen“ ist – so denke ich – eine lebenslange, schöne Aufgabe. Sonst rennt man wirklich den falschen Zielen hinterher. Danke, dass du geschrieben hast. Herzliche Grüße, Uta

  • Und 7 Jahre später hast du sicherlich noch mehr der beruflichen Ziele erreicht und noch ein Buch geschrieben ☺️ Ich bin selbst nicht sonderlich gut, im „Ziele erreichen“, aber vielleicht ist es auch ein Ziel zu lernen, mit dem, was man hat zufrieden zu sein. Trotzdem ist es mir wichtig, dass gerade meine Mädels daran glauben, ihre Ziele unabhängig vom Geschlecht erreichen zu können, aber nie vergessen glücklich zu sein.

    • Liebe Tanja, danke für deine Gedanken zum Thema! Ich bin überzeugt, der Schlüssel zum guten Umgang mit Zielen ist, sich spielerisch welche zu setzen (im Sinne von „dann weiß das Universum Bescheid, was es liefern soll“) und gleichzeitig auf zu passen, dass es keine Ziele sind, die aus dem Gedanken entstanden sind, man müsste etwas über sich beweisen. Herzliche Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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