Hilfe bei Wutausbrüchen 

 23/04/2020

Darin ein Interview mit Kinderpsychologin Prof. Conzelmann über die Rolle von Aufmerksamkeit

Einem Kind Aufmerksamkeit zu schenken, finde ich wichtig. Wer ist dieser kleine Mensch, der in mein Leben gekommen ist? Wie entwickelt sich das Kind? Wie kann ich helfen, dass es immer mehr die Person wird, die in ihm angelegt ist?
Ich verbringe Zeit mit meinem Kind, würdige seine Bauwerke, betrachte seine Bilder, schnuppere in seinem Nacken, freue mich an seinem Sein.
Das ist eine Form von Aufmerksamkeit. Die Grundsätzliche. Für den Menschen. Letztlich eine Spielart der Liebe.

Mit dieser Art der Aufmerksamkeit werde ich nicht geizen. Ich werde sie nicht entziehen.

Natürlich kann ich nicht permanent aufmerksam sein. Das kann niemand leisten, und auch das Kind will mich nicht ständig auf der Pelle haben. Aber ich habe im Großen und Ganzen im Blick, ob es ihm gut geht oder nicht. 

Photo by Daiga Ellaby on Unsplash

Und dann gibt es neben dieser grundsätzlichen Aufmerksamkeit eine zweite von Form von Aufmerksamkeit, eine, mit der ich das Verhalten des Kindes lenken kann. Erwünschtes Verhalten kann ich durch diese „Währung“ verstärken. Störendes durch Entzug von Aufmerksamkeit zum Verschwinden bringen.
Aufmerksamkeit ist - ob uns das gefällt oder nicht - ein sehr wirksames Mittel, um ein Kind zu lenken. Und selbst wenn wir das nicht einsetzen wollen, tun wir es natürlich permanent.
Annette Conzelmann, Professorin für Klinische Psychologie im Kindes- und Jugendalter an der PFH, einer privaten Hochschule in Göttingen, hat mir ein Beispiel von einem guten Umgang mit Aufmerksamkeit gegeben. In einem journalistisches Interview, das ich in diesen Tagen mit ihr führte, erzählte sie mir von ihrem dreijährigen Sohn. 

Annette Conzelmann: „Er wollte kürzlich ein großes Glas Wasser, dann lieber ein Kleines, dann doch wieder ein Großes. Er war wütend, wollte sich regulieren, kam da aber irgendwie nicht raus. In solch einer Situation hilft auch mal ein liebevoll-gelassener Aufmerksamkeitsentzug.“

Uta: „Ein liebevoll-gelassener Aufmerksamkeitsentzug - Was ist das?“

Annette Conzelmann: „Das bedeutet, sich kurz einer anderen Situation zuzuwenden und so dem Verhalten, das man stoppen möchte, keine weitere Aufmerksamkeit zu geben, ohne das Kind als Gesamtperson abzuwerten oder laut zu werden. In dem Moment mit dem Wasserglas hatte es sich von selbst ergeben, weil meine Tochter nach mir rief. Ich sagte meinem Sohn, dass ich kurz nach ihr gucken werde und dann wieder zu ihm kommen würde. Als ich zurückkam, überlegte er noch kurz, ob er das Thema noch mal aufgreifen sollte, aber inzwischen hatte er sich beruhigt und für ein gemeinsames Memoryspiel entschieden.“

Uta: "Sich von einem Kind abwenden, das nicht das gewünschte Verhalten zeigt - da ist man schnell beim Strafen oder beim Liebesentzug. Wie kann man verhindern, dass das Kind sich durch einen Aufmerksamkeitsentzug als Person entwertet fühlt?“

Annette Conzelmann: „Ich zähle mal auf, was man machen sollte:
* Sie sollten es nicht anschreien.
* Sie sollten keine Sätzen sagen, die ein ‚immer‘ enthalten. 'Immer musst du mir so auf die Nerven gehen!' - 'Immer musst du so ein Theater machen!' - 'Immer musst du alles kaputt machen!' …
* Das Kind muss verstehen, dass es hier um ein konkretes Verhalten geht und nicht darum, dass man es als Mensch nicht akzeptiert oder liebt.
* Die Zeit des Aufmerksamkeitsentzugs muss begrenzt sein.
* Das Kind muss wissen, dass es jederzeit auf seine Bezugspersonen zukommen kann.
* Sie sollten sich selbst eine Strategie überlegen, wie Sie in so einer Situation überlegt und gelassen sein können. Wenn man selbst nicht emotional in den Kampf geht, wird das Verhalten oft schwächer.
* Das Kind muss die Regeln kennen, also, was wird von ihm erwartet, was ist ok und was nicht.
* Aber ganz wichtig: Sie sollten überlegen, warum das Kind so reagiert. Braucht es vielleicht gerade eine intensive geborgene Zeit mit mir. Da wäre Aufmerksamkeitsentzug schlecht.
* Oft hilft auch einfach Ablenkung und Fürsorge.“

Professor Annette Conzelmann

"Wir müssen herausfinden, warum das Kind so reagiert. Wenn ich zum Beispiel den Tag über gestresst war und kaum etwas mit dem Kind unternehmen konnte, braucht es meine Fürsorge und Aufmerksamkeit. Kurzer Aufmerks amkeitsentzug ist nur hilfreich, wenn das Verhalten des Kindes in dem Moment dysfunktional ist und der Aufmerksamkeitsentzug ihm hilft, da rauszukommen. Das wende ich nur selten an und nutze Aufmerksamkeit eher so, dass ich dem Kind Aufmerksamkeit für unauffälliges und erwünschtes Verhalten schenke.“


Soweit Prof. Annette Conzelmann.
Es scheint, eine so kleine Alltagsbegebenheit zu sein. Mir ist sie aber wichtig, um euer Repertoire an Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Ich lese gerade in bedürfnisorientierten Blogs und Büchern viel von Wutbegleitung, von Mamas, die ihr Kind keine Sekunde mit seinen Gefühlen allein lassen und um jeden Preis verhindern wollen, dass es sich in seinen Regungen nicht ernst genommen fühlt. So gut das auch gemeint ist. Es kann zu viel werden. Viel zu viel. Kein Mensch kann es aushalten, wenn ihm ein anderer und sei es die allerliebste Mama ständig auf die Pelle rückt. Lasst bei aller liebevoller Begleitung und Achtsamkeit auch Raum zur Selbstregulation. Das ist mir sehr wichtig. Deshalb war ich auch so froh über Annette Conzelmanns Beispiel aus dem eigenen Alltag als Mama. 

Kurz & knackig

  • Nehmt den „liebevoll-gelassenen Aufmerksamkeitsentzug“ in euer Verhaltens-Repertoire als Mama oder Papa auf.
  • Wenn das Kind sich in eine Wut hineinsteigert, könnt ihr zum Beispiel sagen: „Ich kümmere mich gleich um dein Problem und komme wieder.“
  • Das gibt dem Kind und dir Raum und Zeit emotional „herunter zu kommen“. Oft ist das Problem damit schon gelöst.

  • Gleichzeitig gebt ihr dem Kind damit ein Verhaltenssignal, das unerwünschtes Verhalten schwächt und nicht noch verstärkt, wie das bei der Wutbegleitung passieren kann.
  • Wichtig: Ihr verlasst nur kurz die den Raum.
  • Beobachtet euer Kind gut. Ist es unausgeglichen, weil ihr heute noch keine Zeit für es hattet. Dann ist ein Entzug von Aufmerksamkeit ungüngstig.
  • Hattet ihr aber schon viel Zweisamkeit und es kann sich trotzdem nicht regulieren, ist der „liebevoll-gelassene Aufmerksamkeitsentzug“ eine gute Möglichkeit.

Immer fröhlich dem Kind auch Zeit und Raum geben, selbst mit seinen Gefühlen klar zu kommen,

eure Uta

PS: Im Kasten oben war kein Platz mehr, deshalb kommt hier das genaue Tätigkeitsfeld von Annette Conzelmann: Professorin für Klinische Psychologie im Kindes- und Jugendalter an der PFH, einer privaten Hochschule in Göttingen, und Leitende Psychologin Bereich Forschung an der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Tübingen.

  • Liebe Uta,
    der Beitrag trifft genau unseren Familiennerv zurzeit. Nach zwei Wochen „Corontäne“ hatte unser Ältester (7J.) sich einige Verhaltensweisen angewöhnt, die garantiert „negative Aufmerksamkeit“ bei uns Eltern triggern. Mit einer Mischung aus „bewusster Zeit nur für ihn“ (Spaß-Zeit, zusätzlich zum Homeschooling) und liebevollem Ignorieren der anderen Verhaltensweisen gepaart mit vorhergehenden Ansage „Ich möchte nicht, dass du XYZ machst. Jetzt kümmere ich mich ums Baby, in 10 Minuten bin ich auch wieder für dich da“ hat sich alles super entspannt.
    So wohltuend zu lesen, dass diese Strategie nicht ganz falsch ist…
    Überhaupt, ich mag deinen Blog und deinen Ansatz, das Bindungs- und Bedürfnisorientierte auch so zu denken, dass ich als Mutter/Mensch auch noch einen Platz habe und nicht nur ein kreisender Satellit um den Fixstern Kind bin! Danke für deinen Einsatz!
    Viele Grüße!

    • Liebe Lucia, ich danke dir sehr, dass du dir die Mühe gemacht hast zu schreiben. Danke auch für deine Rückmeldung zu meinem Blog. Das tut mir gerade sehr wohl, weil sich hier gerade von den Reaktionen so wenig tut und ich mir den Kopf zerbreche, was meine Leser jetzt gebrauchen könnten. Der sich zerbrechende Kopf ist allerdings auch nicht ganz frei, weil hier gerade wieder Unmengen gegessen und gekocht werden müssen (Abiturientin und Student im Prüfungsstress) und (Trommelwirbel) ich an meinem nächsten Buch schreibe. Darf ich deinen Satz „Überhaupt, ich mag … deinen Ansatz, das Bindungs- und Bedürfnisorientierte auch so zu denken, dass ich als Mutter/Mensch auch noch einen Platz habe und nicht nur ein kreisender Satellit um den Fixstern Kind bin!“ eventuell darin zitieren? Herzliche Grüße, Uta

  • Liebe Uta,
    jetzt war ich eine ganze Weile nicht mehr auf Deinem Blog und kam heute durch ein Gespräch, in dem ich Deinen Blog erwähnte, wieder drauf und las gleich ein wenig.
    Ich habe gute Anregungen bekommen und diesen Artikel hier finde ich hilfreich für eine Differenzierung dieser „Aufmerksamkeitstechnik“.
    Insgesamt habe ich den Eindruck, dass das Aufmerksamkeitschenken für erwünschtes Verhalten besser funktioniert bzw vielleicht auch einfach weniger schmerzlich ist als das Aufmerksamkeitentziehen bei unerwünschtem Verhalten. Wobei ich auch ehrlicher Weise zugeben darf, dass ich zweites in einer Phase gemacht habe, in der mein älteres Kind meine Nähe gebraucht hätte. Das sehe ich jetzt ganz klar. Und so schmerzlich ich diese Erkenntnis finde, so sehr weiß ich zum einen, dass ich verzweifelt und überfordert war, und zum anderen sehe ich jetzt, dass wir daran gewachsen sind- es war ein Nadelöhr für sie und mich. Es läuft eben oft nicht optimal, so ist das bei den Menschen.
    Was ich hier bei Dir sehr schätze, sind Fallbeispiele und Artikel über liebevolle Führung.
    Unter einem der anderen Artikel hat jemand kommentiert, dass sie dazu tendiert, mit dem Rita Messmer Ansatz zu verhärten und nur noch darauf bedacht ist, Boss zu sein- das kann ich gut nachfühlen. Ich glaube, das entsteht, wenn es (noch) nicht das Eigene ist.
    Ich freue mich, wieder bei Dir zu lesen!

    • Liebe Franziska, wie schön, zum Abschluss des Tages diese Rückmeldung von dir vorzufinden. Danke! Ich freue mich, dass du wieder da bist. Und das mit dem Verhärten kann ich gut nachvollziehen. Herzliche Grüße, Uta

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    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

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