Der nachtaktive Sohn 

 02/04/2015

Warum das Leben ohne Erziehung schöner ist.

In der vergangenen Nacht bin ich wenige Stunden vor Morgengrauen aufgewacht. Der Spalt unter der Schlafzimmertür war hell erleuchtet. Ich stand auf, um im Flur das Licht auszuschalten, als ich sah, dass beim Kronprinzen (17) auch noch Licht brannte. „Vielleicht schläft er bei brennender Lampe“, dachte ich und wollte schon in sein Zimmer treten. Aber dann hörte ich Geräusche aus der Schreibtisch-Ecke, beschloss, keinen Vortrag über die immensen Folgen des Schlafmangels zu halten und nahm meine Hand wieder von der Türklinke.
Etwas besorgt kroch ich zurück ins Bett. In Hamburg gibt es keine Osterferien. In wenigen Stunden würde wieder Schule sein. Wie sollte ich ihn um 7 Uhr wach bekommen? Und wenn er es irgendwie in den Unterricht schaffen sollte, würde er die Augen aufhalten können?
Als mein Wecker mich aus dem Schlaf riss, war da sofort wieder diese Ängstlichkeit und Besorgtheit, aber ich erinnerte mich nicht mehr an den Grund. War es wegen der Oster-Torte, die ich backen wollte? Nein, lächerlich. War es wegen all der Buch-Kapitel, die noch nicht fertig sind? Auch nicht. Ach, ja, der nachtaktive Sohn. Ich sah schon die Efeu-Ranken am Gymnasium ihre Saugnäpfe nach dem schlafenden Prinzen  ausstrecken und Schulleitung, Hausmeister und Putzkolonne vergeblich an ihm rütteln.
Aber ihr kennt mich. Ich fasste den Beschluss, den schönsten Gründonnerstagsmorgen aller Zeiten zu erleben und wertfrei zu warten, was auf mich zukommen würde. Kein Schimpfen, keine Ansprachen, nicht mal hochgezogene Augenbrauen, sondern sich einfach freuen, dass es schon seit 17 Jahren beinahe jeden Morgen diesen Kronprinzen in meinem Leben gibt.
Amy, seine Katze, und ich machten uns tapfer ans Wecken. Und vielleicht lag es daran, dass wir glücklich den Beginn der nächsten Tiefschlafphase erwischten. Auf jeden Fall erlangte bald ein erstaunlich gut gelaunter Kronprinz das Bewusstsein eines neuen Tages. Wenig später trat er mit feuchtem Haar in die Küche, lobte die Segnungen des Kalt-Duschens und schaltete die Kaffeemaschine ein.

„Positive Mitteilungen aus dem erziehungsfreien Zusammenleben klingen oft unglaubwürdig. Aber erziehungsfreie Menschen erleben eine beiläufige Harmonie, die in all den vielen Jahren erziehungsfreier Praxis … Bestand hat. Jeder Tag ist in seinen vielen kleinen Situationen die Verwirklichung des Traums, hier und heute glücklich mit den Kindern zu leben.“ Hubertus von Schoenebeck: Kinder der Morgenröte … unterstützen statt erziehen. Norderstedt, 2004, Seite 48

Erziehungsfrei? Jetzt werden sich viele entrüsten. „Das funktioniert doch nicht.“ Aber was von Schoenebeck meint und wo ich ihm voll zustimme, ist keine antiautoritäre Erziehung, sondern ein Einstehen für seine eigenen Grenzen bei gleichzeitigem Respekt der anderen Person, auch wenn oder gerade weil diese Person ein Kind oder ein Jugendlicher ist.
Klar, brauchen gerade kleine Kinder eine klare Führung. Was aber wegfällt – vor allem bei Heranwachsenden -, ist dieses „Sieh-es-ein-ich-weiß-es-besser“, alles Moralische, jeder Versuch, die andere Person optimieren zu wollen, möglichst jedes Vermitteln von „du bist noch zu klein/unreif/ungeschickt/unerfahren“….
Ich übe das noch. Und immer, wenn es mir gelingt, merke ich, wie wunderbar es funktioniert und wie viele Sorgen unnötig sind.
Häufig höre ich: „Ja, ihr habt ja auch keine Probleme. Wenn ich in eurer Situation wäre, könnte ich auch vertrauen.“
Könnte es nicht sein, dass wir weniger Probleme haben, weil wir vertrauen und weil das Kinder stark macht?
Ich möchte weiter üben, mich an folgenden Kurs zu halten:
Interesse?  Ja.  Kontrolle?  Nein.
Unterstützung?  Ja. Keine eigenen (schlechten) Erfahrungen machen lassen? Nein.
Regeln aufstellen? Ja.  Aber zusammen.
Grenzen ziehen? Ja. Aber immer persönlich. („Ich weiß, dass ich dir das zutrauen kann, so lange in der Nacht wegzubleiben, aber ich komme um vor Angst. Es wäre leichter für mich, wenn du mir versichern könntest, dass ich dich immer per Handy erreichen kann, dass du immer mit deinen Freunden zusammen bleibst, dass ich mich auf deine Pünktlichkeit verlassen kann…)
Teenager hassen die Überbesorgtheit von Eltern, genießen aber durchaus ihre Nähe, wenn sie mit ihnen zusammen der Mensch sein dürfen, der sie sind.
Immer fröhlich erziehungsfrei leben.
Eure Uta

Titelbild von Ketut Subiyanto von Pexels. Vielen Dank!

  • Liebe Uta,
    das klingt wirklich toll … und ich wünsche mir, dass es später bei uns auch so „vertrauensvoll“ läuft.
    Gerade sind wir ja noch eine Weile in der Phase, in der die Lütte einsehen muss, dass WIR der Chef sind (mit allem, was dazugehört). Wir haben da ja leider, als sie noch Mini war, zu sehr „erziehungsfrei“ gelebt und müssen nun alles wieder einordnen … Aber vielleicht kriegen wir es irgendwann wieder hin und kommen dann später wieder bei „erziehungsfrei“ und „vertrauensvoll“ an …
    Schöne Ostertage für euch!
    Liebe Grüße,
    Dorthe

  • Liebe Uta,
    ach, wie freue ich mich, mal wieder von Dir selbst Verfasstes und Erlebtes zu lesen. Ich liebe Deine Berichte aus Eurem Haus, weil sie mich immer so wunderbar darin bestärken, auf dem richtigen Weg zu sein. Auch wenn es immer mal Tage gibt, an denen ich schlecht gelaunt falsch abzweige.
    „Könnte es nicht sein, dass wir weniger Probleme haben, weil wir vertrauen und weil das Kinder stark macht?“ Ja, dass glaube ich auch. Und so langsam lebe ich auch in dem vollen Bewusstsein, dass nicht Alles, was bei uns gut funktioniert reines Glück ist. Auch, wenn ich es oft nach außen so darstelle, weil es sonst immer schnell so besserwisserisch wirkt. Aber auch ich mache bei unseren noch etwas kleineren Mitbewohnern (9 und 5) immer wieder die Erfahrung, dass sie gerne auf mich Rücksicht nehmen, wenn ich meine eigenen Ängste und Wünsche offen lege.
    Ich wünsche Euch schöne, hoffentlich nicht allzu weiße Ostertage.
    Herzliche Grüße, Martina

  • {"email":"Email address invalid","url":"Website address invalid","required":"Required field missing"}

    Uta


    Ich arbeite als Eltern-Coach, Buchautorin und Journalistin, bin Ehefrau und Mama (ein Sohn, eine Tochter) und kann es nicht lassen, dem Familien-Glück auf die Spur zu kommen. Ich forsche in Büchern, spreche mit Experten und teste alle Erkenntnisse in der Praxis. Nur was mich überzeugt, weil es das Leben mit Kindern wirklich erfüllender macht, schafft es auf diese Seite.

    Deine, Uta

    >